Dienstag, 6. Dezember 2016

„Irgendwo hinten unten steht ‘ne Buddel“

PUNX not dead, Holzschnitt, KBOTHA 2009

Ein Roman in Briefen von 

Kristina Botha & Birger Riedel


Robert Stanislawski und Vida von Wildenstein kennen sich von Kindesbeinen an. Robert, mittlerweile von Beruf Physiker, eigenbrötlerisches Genie und HSV-Fan, schreibt über die Jahrzehnte hinweg immer wieder Briefe und Postkarten und schließlich Emails an seine gute Freundin Vida von Wildenstein, Malerin, Lebenskünstlerin und zuweilen wütende Feministin. 

Ein seltenes Foto von Vida & Robert
Im Laufe der vielen Jahre hat sich ein Dialog entwickelt, der alle Themen berührte, die die Welt bewegen: Drama, Liebe, Wahnsinn, das Universum, Kunst, Konsum – und den ganzen Rest. Und fast immer ist eine Flasche Wein mit von der Partie – oder eine Buddel Bier. Im Folgenden ein Auszug aus dem Schriftverkehr von Robert (Birger Riedel) und Vida (Kristina Botha). Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und Ereignissen sind natürlich rein zufälliger Natur!

Liebe Vida!
Na? Was macht die Kunst? Die Kunst... Was ist das eigentlich genau, frage ich mich. Kunst kommt von Können. Bloß was?
Wenn ich mich umhöre, stelle ich zum einen fest, dass Künstler interessante Menschen sein können. Doch es scheint so zu sein, als ob die Normalverteilung ein gehöriges Stück in Richtung Selbstdarsteller verschoben ist. Zumindest, was die männlichen Vertreter angeht... Da stehen sie dann auf den Ausstellungen zusammen, trinken zu warmen Sekt, beglückwünschen sich, gönnen sich aber  nicht das Schwarze unterm Fingernagel, und alle bedauern insgeheim den Zustand einer Welt, die diesen Blödsinn kauft. Das Schlüsselwort ist „diesen“.  Ihren eigenen darf sie kaufen.

Ist das bei weiblichen Künstlern auch so? Futterneid? Stutenbissigkeit? Keine Göttin neben mir? Ich kann das nicht beurteilen. Ich bin kein weiblicher Künstler. Zum anderen stelle ich fest: Kunst scheint als Thema nicht weit von Sex zu sein. Da meint auch jeder, er verstünde was davon! Und die Welt müsste das erfahren.
Dein Freund Robert
***
Ja, Robert,
männliche Künstler sind oft schwierig. Nicht dass ich per se etwas gegen Männer hätte, ganz im Gegenteil. Lediglich gegen Bekloppte, doch die finden sich auch unter der weiblichen Bevölkerung. Vielleicht in nicht so großer Dichte. Man weiß es nicht genau. Weibliche Künstler haben andere Probleme. Keine Anerkennung, weil alle Welt denkt, das ist wieder so eine Hausfrau, die nebenbei ihr Hobby pflegt, und das daraus resultierende geringe Selbstwertgefühl. Wie vermarktet frau sich, wo bekommt sie Geld her, wenn sie keinen Mann oder Mäzen hat? Wird sie jemals Erfolg haben? Vielleicht ist das alles nur eine Frage des Zufalls. Und wenn einem etwas zufällt, hat man Glück. Ein männlicher Maler wird im Allgemeinen nicht so in Frage gestellt.
Liebe Grüße, deine Vida
***
Liebe Vida!
Die Annahme, es gäbe keine Zufälle, geht von einem deterministischen Universum aus, das aber so nicht existiert, was sich bereits auf der Quantenebene zeigt, auf der es unmöglich ist, das Verhalten eines Teilchens zuverlässig vorherzusagen. Wenn man ein Quant als Teilchen betrachten kann...
Es gibt sogar auf der Enterprise die sogenannten Heisenberg-Kompensatoren, die eben diese Quantenunschärfe beim Beamen ausgleichen sollen.
Wie sie das machen? Keine Ahnung. Fragen Sie den Transporter-Chief.
Oder nimm den Pendelversuch zur Chaostheorie: Man kann das Pendel zweimal an derselben Stelle loslassen und doch nicht vorhersagen, an welchem der beiden Magneten es am Ende hängenbleibt.
Und das setzt sich natürlich in alle Größenordnungen fort!
So ist zumindest der Stand der Technik. Es kann auch alles ganz anders sein. Da fängt dann die Welt des Glaubens an, und darüber zu diskutieren ist Verschwendung von Zeit, Energie und Nerven.
Das Kind, das ins brennende Haus läuft, weil der Hund noch drin ist, das dämliche Vieh (Ich weiß, ganz schlimmer Plot... kein ernst zu nehmender Film darf sowas verwenden!).Vor einer Woche hatten sie noch keinen Hund. Und das soll kein Zufall sein?
Wo wir beim Hund sind: Stell dir vor, zwei Pappnasen wollen in ein Haus einsteigen, weil die Familie in den Urlaub fährt. Ein einfacher Job eigentlich.
Aber: Seit gestern hat die Familie einen jungen Hund. Der Hund sieht was und rennt zurück, das Kind hinterher, dann die Mutter, dann der Vater, Eskalation, Schüsse, Geiselnahme, 20 Jahre Haft.
Alles wegen des Hundes! Alles wegen einer unvorhersehbaren Veränderung. Eine Variable mehr in der Gleichung. Und das soll nun irgendwer lenken? Na! Wer immer da lenkt, hat einen komischen Sinn für Humor oder Timing.
Das war der Fehler der Sozialisten: Sie dachten, sie könnten für alles einen Plan machen, an den sich nur jeder halten muss, um das Paradies auf Erden zu erreichen. Und der immer wieder erwähnte Sinn, der sich in der Rückschau erkennen lässt? Das halte ich auch für Blödsinn, mehr noch: Es erinnert mich an den göttlichen Plan, den wir armseligen Sterblichen zu akzeptieren hätten, weil wir ihn nicht begreifen könnten. Ich weigere mich aber, sowas zu akzeptieren. Und wie weit soll man zurückschauen? 1 Jahr? 100 Jahre? 1 Million? Sitzen wir irgendwann auf einer Raumstation und fragen: „Na, hatte das jetzt alles Sinn?“ Welchen Sinn hat ein gebrochenes Bein? Soll es einen vielleicht ins Krankenhaus bringen, damit man hinterher einen Roman darüber schreiben kann, mit Details, die so genau eigentlich niemand wissen will?
Von wegen keine angemessenen Beispiele. Wer entscheidet denn, was angemessen ist? Unangenehm = Unangemessen?

Neulich las ich ein Interview in der ZEIT: Jemand fragte einen Philosophen sinngemäß, wo denn nach 2.500 Jahren Fragen und Denken die Antworten seien. Dieser Mensch entblödete sich nicht, zu antworten, dass Philosophen gar nicht nach Antworten suchten!!! Ja...Was soll das Ganze denn dann? Wonach suchen Philosophen denn? Neue Fragen, wenigstens? Planstellen an der Uni? Mann, Mann. Da fiel mir wieder "intellektuelle Selbstbefriedigung" ein... Sex ist nett, füllt den Tag aber auch nicht aus...
Vor ein paar Tagen hab ich das erste bauchfreie Top des Jahres gesehen. Kein Piercing. Aufsteigendes Tribal, beidseitig. Wer lässt sich denn heutzutage noch ein Tribal stechen!? Scharen von Mittdreißigerinnen legen sich unter den Laser, um die Dinger loszuwerden! Das Mädel war also etwa 5, als sie das Teil bekam oder sie lag stylemäßig 15 Jahre neben der Spur?

Gruß, Robert
***
Lieber Robert,
Danke für deinen amüsanten Brief!
Beim Stichwort „geistige Onanie“ fällt mir immer Niklas Luhmann ein, dessen epochales Werk „Das Recht in der Gesellschaft“ ich zum wiederholten Male zu lesen und vor allem zu verstehen versuche. Ein schier aussichtsloses Unterfangen. Dieser Mann schreibt derart verschwurbelt (bzw. schrieb; er ist 1998 verstorben), dass ihm kaum ein anderer Geisteswissenschaftler je zu widersprechen wagte, aus Angst davor, im Grunde gar nicht verstanden zu haben, wovon Luhmann spricht, und sich so vor versammelter Kollegenschar der Lächerlichkeit preiszugeben.
Dass „soziale Systeme aus Kommunikationen bestehen“ (Seite 67), ist ja noch klar, aber hör dir das mal an: „(...) zum Beispiel: >Die Rechnung bitte< im Restaurant. In solchen Verwendungen ist das Recht nur ein Aspekt von Kontakten im täglichen Leben oder in anderen Funktionssystemen. Ins Rechtssystem selbst gehört nur eine code-orientierte Kommunikation, nur eine Kommunikation, die eine Zuordnung der Werte >Recht< und >Unrecht< behauptet; denn nur eine solche Kommunikation sucht und behauptet eine rekurrente Vernetzung im Rechtssystem; nur eine solche Kommunikation nimmt den Code als Form der autopoietischen Offenheit, des Bedarfs für weitere Kommunikationen im Rechtssystem in Anspruch.“ Und so weiter und so fort.
Diese Schreibe erinnert mich wiederum an den alten Langweiler Adorno, von dem ich glaube, dass wenigstens DER Luhmann verstanden hätte, nichtsdestotrotz diente mir das Lesen von Adornos Schriften immer als vorzügliche Einschlafhilfe bei Schlafstörungen.
Es gibt Leute, die haben es nicht nötig, sich mit solchem Irrsinn herumzuschlagen. Vor meinem Haus zum Beispiel ist derzeit eine Baustelle, und einer der Handwerker singt den lieben langen Tag laut und fröhlich das Lied „Hey, Pippi Langstrumpf, hollahi hollaho, hollahoppsasa“. Der Mann muss unglaublich glücklich mit sich, seiner Arbeit und der Welt sein. Nur schade, dass er nicht mal ne andere Platte auflegen kann. Ich hab schon aus dem Fenster gerufen, er solle mal was anderes singen. Mittlerweile werde ich diesen Ohrwurm nämlich selbst nicht mehr los, und ertappe mich dabei, dass ich das Liedchen ständig vor mich hin pfeife.
Von unserer gemeinsamen Freundin Karolin dagegen habe ich schon länger nichts mehr gehört. Sie ist nicht nur ein Email-Messie, sondern kommt auch insgesamt nicht mehr der Arbeit, die sie sich selbst vorgenommen hat, hinterher. Du weißt ja, sie neigt zur Schlamperei. Es gibt da ein Problem, das sie mit vielen Frauen gemeinsam hat; sie lässt sich zu sehr von Männern ablenken. Im Gegensatz zu anderen ist sie zwar treu und langmütig in Beziehungen (abgesehen von dem einem Mal, als sie sich in einem schäbigen Motel mit jenem dicken Mann zum Bumsen traf, der aussah wie eine behaarte Qualle, aber gut, da war sie auch grad nicht gebunden, und soll sie doch ihren Spaß haben, sofern es denn Spaß macht, sich mit einer haarigen Qualle auf einem klebrigen Motelbett zu suhlen...), aber Karolin ist ihrem jeweiligen Mann noch darüber hinaus geradezu hörig ergeben, und wenn sie liebt, dann gibt es nichts anderes auf der Welt für sie als eben jenen Mann, was ich bedauernswert finde, da sie viele Talente hat, die sie sinnvoll nutzen könnte. Doch vor lauter obsessiver Liebe bekommt sie gar nichts mehr auf die Reihe und versinkt geradezu in einem Meer aus Chaos.
Ich finde es immer schade, wenn Frauen sich zu sehr auf ihre Männer konzentrieren, sie beispielsweise umerziehen wollen, obwohl, wie jeder längst wissen müsste, das eh zwecklos ist, oder sie eifersüchtig überwachen müssen, und was es dergleichen mehr an destruktiven Eigenschaften gibt. Es ist nie klug, sein Glück von einer anderen Person abhängig zu machen, anstatt sein eigenes Leben zu leben.
Ich glaube, dass die meisten Männern den Frauen in dieser Hinsicht einen Schritt voraus sind, denn SIE (die Männer) gehen ihren Weg, auch wenn sie in einer Beziehung stecken. Insofern können wir Frauen von den Männern noch etwas lernen, eben diese auf ein Ziel gerichtete, pragmatische Vorgehensweise. Doch ich will mitnichten etwas verallgemeinern, es gibt immer sone und solche.
Bleibt anzumerken, dass Intelligenz meines Erachtens nicht zwingend glücklich macht, denn wer intelligent ist, denkt zwangsläufig zu viel und kann dadurch nachdenklich und davon schließlich schwermütig werden. Und am Ende muss man zur Flasche greifen, um ein angenehm taubes und leeres Gefühl im Gehirn künstlich herzustellen, um die im Kreis fahrenden Gedanken zu stoppen, die am Ende sowieso nirgends hinführen als ins Narrenhaus, wenn man ganz viel Pech hat.

Der angesoffene, nebulöse Zustand führt unter Umständen auch gar nicht zur absoluten Leere des Geistes, wie die Meditation sie fordert; bisweilen kommt man bloß auf schräge Ideen, die man im Moment für genial hält, die sich aber am nächsten Tag als ebenso unerträglich erweisen wie der brummende Schädel, als unerträglich peinlich nämlich.
Meine selige Großmutter pflegte zu sagen: „Intelligenz säuft, Dummheit frisst!“
Hört sich einigermaßen logisch an, doch eine empirische Studie darüber existiert meines Wissens nicht.
Diese Gedanken im Sinn entkorke ich jetzt eine Flasche Rotwein und verbleibe mit lieben Grüßen
VIDA
***
Liebste Vida!

Nein, darüber gibt es keine empirische Studie! Ich frage mich aber, wie die aussehen könnte...Sowas muss ja wasserdicht gemacht werden! Statistisch und so. Man bräuchte also mindestens 2.000 Leute, von denen die Hälfte nachweislich dumm und die andere intelligent ist. Jaja. Soviele müssen es schon sein. Da reichen nicht die 123 Frauen aus der Spachtelmassenwerbung, von denen hinterher 78% um 90% jünger aussehen...
Dann müsste man sie beobachten. UND: Man bräuchte natürlich eine Vergleichsgruppe, die nicht weiß, das sie beobachtet wird.
Oder nicht weiß, dass sie dumm ist? Das weiß ich jetzt nicht genau...
Halten wir dem Sprichwort mal zugute, dass hinter ihm ein paar hundert Jahre Lebenserfahrung stecken. Das gildet auch. Sonst hätte es sich nicht durchgesetzt.
Zudem: Wer wollte leugnen, dass nach dem zwoten Glas vom Roten die Synapsen schneller funken und die Dinge besser fließen? Einschließlich dem, was so aus Federn und Pinseln kommt. So entstehen die besten Welteroberungspläne! Und heißt es nicht, Alkohol sei für den Geist wie Wind für das Feuer? Das Schwache bläst er aus, das Starke facht er an? Oder ging es da um Fernbeziehungen?
Ich glaube, wer sich zuschüttet, um seine wirren Gedanken zu betäuben, sucht bloß einen Grund zum Saufen. In den allermeisten Fällen liegt die Last der Welt nämlich nicht auf seinen Schultern... „Tiefer hängen“, sagte der Alte Fritz dazu.
So gesehen ist der Mann auf der Baustelle wirklich zu beneiden: Wenn der sein Bier trinkt, tut er es so, wie man ein Bier trinken sollte: ohne Hintergedanken. Und ohne 2.500 Jahre Philosophie im Gepäck... Das BIER einfach BIER sein lassen. In seinem gesellschaftlichen Kontext.
Womit wir wieder beim Thema wären. Vielleicht sollte ich noch eins trinken, damit die wirren Gedanken aufhören?
Diese Leute machen mich zornig. Hat der Luhmann Zeit seines Lebens so geschrieben oder erst, nachdem ihn alle für den Größten hielten? Danach hat er wahrscheinlich seine verständlichen Werke vernichten lassen. Ich mühe mich ja um Einsicht. So las ich etwas über Heidegger. „Über“ soll heißen: Kommentare und Interpretationen, geschrieben von Leuten, die ihn erklären. Vielleicht sollte ich noch was darüber lesen, was diese Leute meinen... Ich verstehe es immer noch nicht! Denk an Grönemeyer: „Was soll das?“

Wenn man allerdings bedenkt, dass das, was in der Wuselwelt der Menschen da unten geschah (Heidegger saß und dachte ja gerne erhöht), so wenig Einfluss auf seine Gedanken hatte, dann könnte einen der furchtbare Gedanke beschleichen, dass seine Gedanken umgekehrt...
Kant hab ich auch probiert. Ungefiltert. Es ging einfach nicht.
Warum können diese Leute nicht so schreiben, dass es jeder verstehen kann? Bloß keinen Satz mit weniger als 6 Kommas, bloß kein Wort in seiner eigentlichen Bedeutung verwenden? Oder wollen sie nicht? Ist es das?
Ich mache eine Sache unnötig kompliziert, erkläre mich selbst zum Experten, alle anderen zu Banausen und beschränke mich fürderhin darauf, andere Experten zu beeindrucken.
Solange es dabei um Whisky, Zigarren, Kaffee (wahlweise Tee), Schokolade, Mineralwasser oder Monsterfilme geht, ist es schlimmstenfalls albern und tut keinem weh. Aber Philosophie? Da erwartet man doch mehr Verantwortungsgefühl. Die kann Leute auf dumme Gedanken bringen! Da können Menschen zu Schaden kommen, und sei es nur dadurch, dass sie sich mit der Buchstabensuppe befassen müssen. Das ist nicht mehr komisch.
Ich hab übrigens auch noch einen: „Wo immer du hingehst, da bist du!“
Leicht zu merken und hält jeder Überprüfung stand.

Karolin... So viel Enthusiasmus, so viele Ideen und so wenig Plan.
Weißt du noch, ihr erstes Haus? Wenn Kafka mal für „Heim und Garten“ geschrieben hätte, wäre wohl so etwas dabei rausgekommen. Was wollte sie nicht alles: Einen Roman schreiben, Reisen in 100 Weltgegenden, mindestens 2 Sprachen lernen... Einen Pass hat sie sich immerhin besorgt, aber dann ist es irgendwie abgerissen. Und mit Männern hat sie genauso viel Glück:
Der Typ aus Holland, der ihr monatelang von seinem schwierigen Leben erzählte, den sie beinahe heiraten wollte und der dann DOCH(welche Überraschung...)Knall auf Fall zu seiner Frau zurückkehrte...
Die Qualle war... Ja, was soll man da sagen? Vielleicht steht sie auf die Sorte? Dann kann man nichts machen. Ich würde aber doch Verzweiflung vermuten.
Allerdings sollten wir nicht selbstgerecht werden, denn wir wissen nicht, wie tief wir bei Gelegenheit (und fortschreitendem Alter) noch sinken könnten.

Jetzt fällt mir nichts mehr ein.
Gruß, Robert
***
Mein lieber Robert,

Studien und Statistiken. Die kann man sich drehen und wenden, wie man sie gerade braucht. Das ist ja eine Binse. Lernt jeder Erstsemestler auf der Uni. Ist immer schwierig zurückzuverfolgen, wer oder was da eigentlich genau untersucht beziehungsweise befragt wurde. Kommt auch drauf an, wer der Auftraggeber einer Studie ist, und was er damit beweisen will. Somit steht das Ergebnis oft schon VOR der Durchführung fest.
In einer alten Ausgabe der ELLE, die ich aus einer Arztpraxis geklaut habe, las ich jetzt: „42 Prozent der Frauen hatten bisher zwei bis vier Sexpartner. 26 Prozent geben zu, mit fünf bis zehn Männern geschlafen zu haben. Magere 17 Prozent begnügten sich (bisher) mit einem einzigen Liebhaber.“
Das ist ja auch schon wieder irgendwie manipulativ: „geben zu“. Als wenn das was Schlimmes wäre. „Zwei bis vier“, hm. Laut einer kleinen, selbstredend nicht repräsentativen Umfrage, die ich einmal persönlich unter meinen Freundinnen durchführte, haben 80 Prozent der Frauen mit fünfzehn bis zwanzig Typen gepennt, 15 Prozent mit zwanzig und mehr sowie 5 Prozent mit fünf oder weniger.
Welchen Schluss ziehen wir daraus? Meine Freundinnen sind alles Schlampen?
Hängt das mit der Peer Group zusammen? Befragte die ELLE nur frigide Langweilerinnen ohne Erfahrung?
Man weiß es nicht genau.
Bis auf die Tatsache, dass die ELLE eine Zeitschrift ist mit hübschen Mode-Fotografien und relativ belanglosen Texten.
Was auch noch drinstand: Die 40-Jährigen von heute seien in der „3. Pubertät“. Nie sei eine Generation von Vierzigjährigen so jugendlich und wenig bereit gewesen, erwachsen zu werden.
Das deckt sich in etwa mit meinen Beobachtungen von tätowierten Familienvätern im Punkrockoutfit, die ihren Nachwuchs in Strampler mit der Aufschrift „Punx not dead“ stecken. Später einmal wundern sie sich dann, wenn der Sprössling in gebügeltem Hemd plus Krawatte vor ihnen steht; aus reinem Protest! Jugendliche Rebellion nennt man sowas, und alle tätowierten Väter werden melancholisch die Köpfe schütteln, hilfesuchend ein Bier greifen und zu ihren alten Punk-LPs eilen, um sich musikalisch in eine Zeit zu teleportieren, in der alles besser war. „Opa hört wieder seine Oldies“, werden noch die Enkel stöhnen und sich über den alten Narren das Maul zerreißen.
Und endlich weiß der alte Vater, wie es seinem Opa ging, als er wieder und wieder vom Krieg berichtete, während er, der heute nichts weiter vorzuweisen hat als ein paar Straßenschlachten, als Kind die Nase rümpfte.
Der Konflikt der Generationen hört nie auf.
Und die Zeiten ändern sich, ohne dass man den Lauf der Welt stoppen könnte.
Noch in den Siebzigern hat jeder Zigaretten geraucht, bis die Hütte qualmte. Auch und gerade in öffentlichen Talkshows.
Gut, davon gab es nicht so viele wie heute, höchstens „Drei nach Neun“, aber dafür waren die Talkgäste auch irgendwie intelligenter. (Oder meint man das nur, weil in der Rückschau alles besser erscheint? Was nicht besser war: Es gab nur drei Programme, den Sender der DDR und das Testbild.)

Jedenfalls hat früher jeder geraucht. Gesoffen sowieso, aber keine Alkopops, die waren noch nicht erfunden. Früher hieß das Fanta-Korn oder Whiskey-Cola.

Gestern nun ermahnte mich meine 13jährige Nichte (kurz nachdem sie mich gefragt hatte: „Tante Vida, warst du früher mal ein Punker?“, woraufhin ich antwortete: „Früher? Immer noch!“, ohne auf die völlig falsche Bezeichnung „PunkER“ einzugehen), ich solle nicht rauchen, wobei sie heftig mit den Händen vor ihrem Gesicht herum fuchtelte, wie um den Rauch, der gar nicht in ihre Nähe, sondern in die entgegengesetzte Richtung waberte, zu vertreiben.
Sie hätte gerade mit der Schulklasse einen Ausflug ins Universitätsklinikum gemacht, um sich eingelegte, schwarze Lungen von Ex-Rauchern anzusehen, die vermutlich an einem Herzschlag gestorben waren, nachdem sie über den nervigen Kommentar eines renitenten Nichtrauchers in Zorn geraten waren.
„Du weißt“, so meine Nichte altklug weiter, „dass du sterben wirst, wenn du rauchst?“
Ich antwortete lapidar: „Du weißt, dass jeder Mensch sterben muss?“
Sie schrie entsetzt auf. „Ich will aber nicht sterben!!!“
Nun, die wenigstens Leute wollen das. Ich konnte meine Nichte diesbezüglich nur insofern beruhigen, als dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit (siehe Statistik) zumindest HEUTE und vermutlich auch nicht morgen sterben werde.
Nun will man ja so ein 13-jähriges Mädchen auch nicht unnötig beunruhigen. Sie hat ja noch ab 30 Zeit, sich mit den furchtbaren Gedanken über die Endlichkeit des Seins herumzuschlagen. (By the way: Ist dir mal aufgefallen, dass man lediglich zwei Buchstaben vertauschen muss, um aus „fruchtbar“ furchtbar zu machen?)
„Aber vom Rauchen kriegt man Krebs!“, beharrte sie weiter.
„Ohne zu rauchen unter Umständen auch“, sagte ich und dachte im Stillen an das, was unmittelbar um mich herum vor sich geht. Lass mich mal nachdenken...
In meinem Umfeld bekamen zwei Frauen Krebs, beide Anfang dreißig, beide nie geraucht. Beide gelten als geheilt. Zwei weitere Frauen, beide ebenfalls nie geraucht, starben gerade an Krebs mit Mitte dreißig.
Und noch zwei Nichtraucherinnen liegen gerade im Sterben; Krebs im Endstadium, unheilbar, Mitte dreißig. Macht summa summarum sechs Krebspatienten, die nie geraucht haben!
Während Johannes Heesters 90 Jahre lang geraucht hat, also ungefähr ebenso lange wie er ins MAXIM gegangen ist. Fazit: Sterben müssen alle, fragt sich nur WANN. Das WARUM ist dann mehr oder weniger eine Überraschung.

Von sündhaftem Verhalten, wie Rauchen und Trinken, komme ich zum Ende meines Schreibens auf das Thema Essen. Letztens verkaufte ich zwei Diät-Kochbücher der FoodFighters im Internet. Von dem nicht unerheblichen Erlös ließ ich mir zwei große Pizzen vom Lieferservice bringen.

Und nun keine Witze über Dicke, bitte!!!
Wir Frauen sind da empfindlich...

Es grüßt herzlich
deine Vida
***
Meine liebe Vida!

Wer bin ich denn, dass ich dir deine Pizzen vorrechne! Das war schon sehr pragmatisch, dass du die Bücher gegen was Nützliches eingetauscht hast. 99% von denen stehen eh nur for show im Schrank, als würde ihre pure Anwesenheit Kalorien austreiben. Aber hinterher nicht beschweren: „Ich bin zu...usw.!“
Wahrscheinlich ist sowieso nur der Spiegel wieder verstellt.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass eine Frau einen Schatten haben sollte! Haben? Werfen. Was soll ich als Mann mit so einem Hungerhaken anfangen? Mit der kann ich ja nicht mal Essen gehen!
Da schichtet sie dann ihren Saisonsalat auf der Suche nach eventuellem Nährwert um und muffelt mir in den Zwischengang. Ich danke schön. Die hat bestimmt auch sonst viel Spaß...Und man holt sich blaue Flecken.
Ich weiß nicht, wie repräsentativ Umfragen in Blättern mit hübschen Bildern und belanglosen Texten sind... Ich glaube aber, dass die Zahlen zu niedrig gegriffen sind. Ich hoffe es sogar!
Männer malen sich an dieser Stelle ja gerne die Welt schön und vertun sich schon mal um den Faktor 3. Bei Frauen soll es umgekehrt sein... Aber in so einer Umfrage könnten sie alles „zugeben“ („Gestehe, oder wir holen das weiche Kissen!“) oder einfach ins Blaue lügen. Das ist doch das Schöne dabei!
Vielleicht ging es ja auch um Sexpartner nebeneinander...?
Was mir aber gleich auffiel: Das sind zusammen nur 85%! Was decken die restlichen 15 ab? Alles von 11 bis Unendlich? Hab ich vergessen? Aufgehört, zu zählen? Von mir aus kann eine Frau so viele Kerle flachlegen, wie sie greifen kann. Ich würde es nur begrüßen, wenn ich, im Fall der Fälle, der einzige vor Ort wäre. Andere Kombinationen würden mich nervös machen...
Die Erklärung ist wahrscheinlich ganz einfach: Stell dir vor, die veröffentlichen deine Zahlen, und die liegen im Wartezimmer rum. Womöglich beim Püschologen! Und dann muss eine lesen, was in anderen Betten für ein Durchgangsverkehr herrscht! Da fühlen sich doch so herum alle besser.
Oder deine Freundinnen sind wirklich Schlampen.

Ich war nie Punk. Nicht mal ansatzweise. Ich bin schlicht 10 Jahre zu spät sozialisiert worden, um mich dafür zu begeistern. Es wurde mir auch nie so recht klar, wofür oder wogegen Punk eigentlich war. Gut, gegen 70er-Musik waren sie. Das kann ich verstehen. Für mich waren Punks die strubbeligen Gestalten, die in der Fußgängerzone um den Brunnen herumsaßen und...was taten? Ob das morgens lange dauerte, so strubbelig zu werden?
Rechts hatten sie eine Halbliter-Treibladung und links ein Tier (Hund?), das, nomen est omen, auf den Namen Ratte, Socke oder Stinker hörte.Meistens hießen sie auch selbst so. Ich machte mal einen unterhaltsamen Test auf Facebook mit dem Titel „Was ist dein Punk-Name?“ Da kam heraus: „Dein Name lautet KOTZE!“ Also wirklich. Lärm durften sie nicht machen, weil sonst der Schutzmann kam und mit dem Finger drohte. Keiner von denen sah so aus, als ob er/sie mal etwas wie Enkel haben würde, denen man Geschichten aus der Kampfzeit erzählen kann. Wahrscheinlich nicht mal eine Plattensammlung.
Das war zu der Zeit, als unser Klassenkamerad Norbert, das so ziemlich unpunkigste Wesen in dieser Hemisphäre, durch die Stadt lief und mit der Frage: „Hammschie Pankbrilln?“ nach einer Punkbrille suchte. Die fanden damals nämlich alle cool. Irgendwann hatte er eine und sah überhaupt nicht cool aus. Andere schon, er nicht. Das war wie 15 Jahre später mit der Matrixbrille. Jeder Dorftrottel wollte eine haben und sah trotzdem nicht aus wie Neo.
Naja, kurze Zeit später gab es dann Punkbrillen beim Karsti, und wir wissen, was das für einen Trend bedeutet: Das schäbige Ende auf dem Grabbler!
Man könnte auch sagen: Das SYSTEM hatte den Punk assimiliert! Widerstand ist zwecklos. Vergleichbares geschieht mit „Rock“-Bands, wenn VW ihren Namen auf einen Golf klebt...
Nein! Früher war ganz und gar nicht alles besser! Früher war einfach nur früher.
Und das gilt für alle Dinge, wenn man nur genau hinsieht. Man glaubt z.B. nicht, was damals für Grütze in der Glotze lief, die heute zu recht vergessen ist. Selektives Gedächtnis... Dass ein Programm Schwarz-Weiß war, sagt noch gar nichts. All die bunten Showformate, die von den Privaten gerne als Meilenstein der Fernsehunterhaltung gepriesen wurden/werden... Abgekupfert. War alles schon da. Noch bevor der Willy damals zu spät auf den Knopf drückte.
Genauso beim Fußball: Die ganzen Superspieler mit den Superfrisuren konnten nur Superspieler werden, weil man sie gelassen hat! Die „rannten“ über den halben Platz und sahen irgendwo im Dunst vielleicht einen Verteidiger. Heute würde ihnen nach 10 Metern einer im Trikot stecken. Außerdem war das Zeitlupenfußball. Sogar Rahn-müsste-schießen war da schneller unterwegs. So!
Mit den Talkshows magst du richtig liegen: Es gab nur wenige und sie waren intelligenter. Gehirnschmalz musste nur für ein sehr viel kleineres Brot reichen.
Und: Anspruch! In den 70ern hatte alles einen Anspruch. Einen gesellschaftlichen. Eine Mission! Der bildungspolitische Auftrag der 3. Programme musste erfüllt werden! Das hat irgendwie nicht hingehauen...
Und zieht sich bis zu deinem Goldkind von Nichte. Es ist ja liebenswert, dass sie das Wort Punker noch kennt und vielleicht sogar eine Vorstellung davon hat, was das war. Aber auf der anderen Seite: Da schleppt man Schulklassen organisiert durch die Pathologie, hält ihnen geräucherte Lungen unter die Nase (damit sie es auch kapieren!) und was lernt das Kind daraus? „Wenn ich nicht rauche, muss ich nicht sterben!“ Wenn man ihr ein Magengeschwür gezeigt hätte, würde sie jetzt wahrscheinlich nichts mehr essen (Erzähl ihr bloß nix von den 2 Pizzen!).
Es gibt da so ein „Privatinstitut zur Altersprävention“. Das klingt beeindruckend. Und teuer. „Privat.“  Gibt es da auch nicht-private Institute?
Die müssen viel zu tun haben. Da ja alle alt werden wollen, aber keiner alt sein will – dafür aber ewig leben. Man stelle sich das vor. Wer soll das bezahlen? Ich habe ja die Absicht, mindestens 142 Jahre alt zu werden. Mit oder ohne Altersprävention! Wie ich genau auf 142 komme, weiß ich nicht genau. Vermutlich hat mich da die 3. Pubertät geritten. Wann war in dem Plan eigentlich die 2. vorgesehen? „40 ist das neue 30“, las ich heute auch.

Siehst du wohl! Das ist das Ergebnis einer Umfrage auf der Lifestyle-Seite eines großen rosa Internetproviders. Sowas hat Gewicht!
Und was heißt denn „erwachsen“? Ha? Ha! Nicht zu euren Bedingungen…

Pubertäre Grüße
Robert
                                                                        ***
Lieber Robert!
Welche Frau beschwert sich nicht hin und wieder über ihr Gewicht? Letztens besuchte ich meinen Vater, und der tätschelte mir zur Begrüßung liebevoll den Bauch mit den Worten: „Na, du dicke Künstlerin!“ Obschon ich sowas wie „Guck dich selbst an!“ nuschelte, gab mir das zu denken. Aber ich weiß, er hat es nett gemeint. Dick steht mir halt besser, glaubt er. Ich selbst bin da unsicher.
Mit vierzig kann frau aber wohl etwas dicker sein als mit zwanzig. Und, ja, ich las das auch, Vierzig sei das neue Dreißig. Die Siebzigjährigen verhalten sich heute auch irgendwie anders als früher. Unerwachsen. Kleiden sich in Jeans, nicht in Beige.
Bei besagtem Besuch nun erzählte mir mein Vater von seinem Freund B., der über 47 Labskaus-Rezepte verfüge und sie tatsächlich alle nachgekocht hat. „Labskaus“, so B., sei ein wichtiges Seemannsgericht, und es lohne sich, alle Varianten zu kennen. (Ich persönlich bevorzuge die ohne Fleisch, mit viel fettem Hering, was vielleicht auch den Bauch erklärt, aber Fischfette sind ja wertvoll für die Gesundheit, Omega3-Fettsäure ist das Stichwort, gesünder als gesättigte feste Fette vom Säugetier usw. Und ein Spiegelei obendrauf! Was soll’s.)
„Das ist doch alles Arschkram“, meint mein Vater dazu, „Labskaus, wie wir es kennen, ist NIEMALS ein Seemannsgericht gewesen! Spiegelei? Gürkchen? Ich lach mich schlapp! Da wurde alles zusammen gerührt, was da war. Und die meiste Zeit gab es eh nur getrocknetes Fleisch, das dermaßen salzig war, dass es sozusagen auf der Stelle Gicht und Bluthochdruck auslöste…“
„Ja“, unterbrach ich, „von Skorbut ganz zu schweigen!“
„Genau! Und das einzige Frischfleisch war ein lebendes Schwein an Deck, oder ein Huhn, aber das wurde so lange aufgehoben, bis es nicht mehr anders ging. Spiegelei! Gürkchen! So ein Scheiß!“
Aber, so mein Vater weiter, B. sei doch ein Guter, gerade was seine unglaubliche Hingabe an die Dinge an sich und Details im Speziellen angehe. So habe B. immer Katzen um sich herum gehabt, auch an Bord, meistens dicke Kater, so richtige Seemänner unter den Katzen. Die auch mal einen Knuff vertragen und nur Fisch essen und kein Dosenfleisch. Oder eben Labskaus vom Vortag. Wenn nun diese Kater einmal starben, an seliger Altersschwäche, kam für B. stets nur eine Seebestattung infrage. Er beauftragte einen befreundeten Segelmacher, du weißt schon, wen ich meine, um die verblichenen Matrosen-Kater in Segeltuch einzunähen. Die Zeremonie verlangt, dass etwas Schweres, wie zum Beispiel Steine, in den Leichensack eingenäht werden, und dass der letzte Stich mit der Nadel durch die Nasenscheidewand des Verstorbenen geht, um dessen Seele zu befreien und vorzubereiten auf die Ewigkeit (Walhalla oder dergleichen). Last stitch through the nose, heißt es korrekt.
Das wollte der Segelmacher bei den Katzen aber nicht machen. Was B. wegen seiner Detailversessenheit jedesmal aufbrachte, denn Ordnung muss sein, auch an Bord! Ein altbewährtes Ritual hat seinen Sinn und muss seinen Sinn behalten, so seine Ansicht. Mithilfe von neuer Technik allerdings findet er die Gräber der verstorbenen Seekatzen wieder: GPS. Jaja! Eine tolle Erfindung, die, wie die DNA-Analyse, vielen Seeräubern und anderen Verbrechern zum Verhängnis werden kann. Das ist ein echter Fortschritt gegenüber früher. Und der Fortschritt ist ja seit dem ersten Grunzer des ersten Höhlenmenschen nicht aufzuhalten. Das Feuer, das Werkzeug, das Rad, Metall- und später Handfeuerwaffen, Eisenbahnen, Flugzeuge, Acrylfarbe, Mobiltelefone, Computerspiele, genmanipulierte Sojabohnen, Penisprothesen…
Früher war immer früher, zu allen Zeiten. Und zu jeder Zeit dachte man, früher sei alles besser gewesen und die Jugend „von heute“ sei verdorben. Auch im Mittelalter. Und sonst auch. Erstaunlich, wenn man so darüber nachdenkt. Wann hört das Ganze bloß auf? Endet es mit einem großen Knall? Entsteht dann ein neues Weltall? Das ist auch so ein Thema für sich. Wie kann sich etwas unendlich ausdehnen? Wo hört das All denn auf? Das macht mir irgendwie Angst.
Ich beende diesen Brief nun und verbleibe in freudiger Erwartung auf deine Antwort als
deine VIDA
P.S.: Ich las jetzt (den Namen des Autoren hab ich leider vergessen): „Ist vielleicht die äußere Ordnung – wie Albert Camus schon fest stellte – nur der verzweifelte Versuch, mit einer großen inneren Unordnung fertig zu werden?“ Mancher Kreativkopf einer Werbeagentur zum Beispiel giert förmlich nach einem Schreibtisch, der die Anmutung eines Bombenangriffs hinterlässt, damit er seinen Ideen freien Lauf lassen kann und sieht das als Schlüssel seines Erfolgs. Wie viel Chaos braucht die Kreativität?“
Was meinst du dazu?
***
Ja, liebe Vida, ich bin sicher, dass das für Camus mit der großen inneren Unordnung stimmte. Aber wieso verzweifelter Versuch? Vielleicht hilft es ja?
Übrigens ist das nicht seine Idee. Die hat er von Kant. Der baute sich auch schon eine strenge äußere Ordnung, weil er der Meinung war, dass er so seine Triebe davon abhalten könnte, ihn vom Philosophieren abzuhalten. Man kann sich jetzt fragen, ob das ein Grund für seinen verschwurbelten Stil ist...

Ich weiß nicht, wie viel Unordnung Kreativität braucht. Einen wilden Schreibtisch braucht sie sicher nicht. Damit wollen die sich doch bloß ein cooles Image verschaffen. So nach dem Motto: „Seht her, wie kreativ ich bin! Mein Schreibtisch ist nicht aufgeräumt! Außerdem bin ich Chef und darf das.“
Trappatoni hat gesagt: „Offensiv ist nicht auf dem Platz, offensiv ist im Kopf!“
Dito kreativ.
Wenn ICH mir was einfallen lassen will, braucht es viel Herumgelaufe und Selbstgespräche, bis etwas steht. Aber ich schreibe ja auch nur gelegentlich was und muss keine neue Waschmittelpackung entwerfen.
Da denke ich doch lieber über rabaukige Bordkatzen nach, mit Augenklappe und in jedem Hafen ne Braut! Und einem Vollbart.
Obwohl ein Schiff eigentlich der ungünstigste Platz für eine Katze ist: Wenn der Kahn mal vollläuft, hat sie ganz schlechte Karten. Gut, die Katze weiß das nicht... So eine Seemannskatze hat natürlich eine ordentliche Bestattung verdient. Über den last-stitch habe ich auch mal was gelesen, aber das war weniger romantisch: Eine Version sagte, dass man so ganz sichergehen wollte, dass der Tote auch wirklich tot ist. Ein genervtes Aufjaulen hätte dann alle überzeugt, dass man das Begräbnis noch ein wenig verschieben sollte. Ein Missverständnis wäre da hinterher kaum wieder gutzumachen gewesen.
Die andere besagte, dass man sichergehen wollte, dass der Tote auch tot blieb und nicht zurückkehrte und an Bord Unsinn anstellte, zum Beispiel den Bordkater zu Tode erschrecken. Seeleute glaubten an eine Menge Blödsinn.

Sie glaubten auch, dass das madenzerfressene Zeug aus dem Schiffsraum besser schmeckt, wenn der Smutje es mit anderem halbvergammeltem Zeug zusammenrührt und ihm einen schicken neuen Namen gibt. (Hat so nicht auch die Finanzkrise angefangen? Aber das nur am Rande.) Fairerweise muss man sagen, dass der Speisezettel damals eigentlich nur aus Halbvergammeltem bestand, und dass Labskaus wenigstens kreativ war. Wie wohl der Schreibtisch seines Erfinders aussah?

Neulich in der U-Bahn habe ich einen echten Punk gesehen! Mit gestreifter Hose und Flensbügeln an der Jacke! Dass es das noch gibt! Sternschanze (natürlich) stieg er ein und Feldstraße wieder aus. Das ist eigentlich Blödsinn, denn die Strecke kann man in derselben Zeit zu Fuß gehen. Aber vielleicht traute er sich nicht weiter? Wollte sein Biotop nicht verlassen.
Ich hatte den Verdacht, dass er den ganzen Tag mit seiner Schülerkarte zwischen den beiden Stationen pendelt.
Am Fenster der Bahn war eine Werbung für Vaginal-Korrekturen. So explizit stand das natürlich nicht da, aber wir Pastorentöchter wissen, was mit „Intimchirurgie“ gemeint ist.
„Mamaaa? Was ist Intimchirurgie?“ In der U-Bahn!
Und da regen sich die Leute auf, wenn die Kids ein paar alberne Pornos im Internet ansehen.

Apropos Porno: Neulich habe ich Carlotta Rochens Erstlingswerk gelesen. Wenn es nach mir geht, auch ihr letztes! Weiß die Frau, was sie da anrichtet? Ich bin gezeichnet! Vielleicht fürs Leben. Vielleicht werde ich noch blind.
Ich wollte das alles überhaupt nicht wissen!
Und ich werde auf Jahre keinen Sex mehr mit einer Frau haben können.
Wenn das um sich greift... Oh Mann.
Das Buch dürfte eigentlich erst ab 18 verkauft werden. Wenn es mich schon derart runterzieht, was geschieht dann mit einem beliebigen Jüngling um die 16? Der denkt am Ende, alle Frauen sind so, und wird schwul!
Roger Willemsen fand das Buch ja toll. „Erfrischend“. Jaja. Ich weiß genau, woran er gedacht hat. Der Lustgreis vom Feuilleton! Hat ihm auch nix genützt.

Ich, und sicher auch alle anderen, frage mich nun jedes Mal, wenn ich Frau Rochen sehe, ob das Buch autobiografisch ist (das wäre schlimm) oder ob sie sich das ausgedacht hat (DAS wäre noch schlimmer!)? Es ist ähnlich wie bei einem Bekannten von früher, der im Suff lauthals verkündete, er würde sich dreimal am Tag einen runterholen, und bei jedem Treffen fragte ich mich dann, ob er sein Pensum für den Tag schon erledigt hatte. Heruntergerissen sozusagen. Das war auf Dauer nicht schön.

Etwas, das ich auch nicht wissen wollte: Männer, die Sex mit ihren Autos haben.
Das kannte ich bisher nur aus einem Clint-Eastwood-Film, in dem er vorgibt, mal wegen Unzucht mit einem Kraftfahrzeug verhaftet worden zu sein, um in eine tumbe Miliz reinzukommen (Es war eine Komödie).
Aber demnächst läuft darüber was im TV!
Gruß, Robert
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Huhu, Robert!!!
Dieses bescheuerte Buch habe ich auch gelesen. Primitiv und berechnend. Frau R. setzt voll auf Schock-Effekte, um von sich reden zu machen. Und die Lustgreise vom Feuilleton fallen darauf rein! Ich las, dass einige Frauen sich auf einer Lesung bei ihr bedankten – sie, Frau R., hätte ihnen aus der Seele gesprochen. Um Himmels Willen – diese Frauen möchte ich nie kennen lernen. Und ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass auch ich als Frau, gerade ich als Frau, von dieser perversen Fantasie – so es denn eine ist, und das will ich für Frau R. hoffen – dermaßen abgeschreckt war, dass mir bisweilen kotzübel wurde beim Lesen. Abgesehen von diesen sorgfältig kalkulierten Kuriositäten bietet das Buch nichts außer einem einfältigen Plot und dilettantischen Dialogen. Oha, ich habe es wohl gerade mit Alliterationen…
Die Seeleute hatten da bessere Ideen, ganz abgesehen davon, dass sie geschickter waren im Spinnen von Seemannsgarn als die meisten deutschen Autoren (erwähnte ich schon, dass ich Goethe und Thomas Mann für gnadenlos langweilig und völlig überschätzt halte?). So mag ich ja beispielsweise die Annahme, dass sich ein „Jonas“ an Bord befinden müsse, sobald mal was schief läuft – und es kann viel schief gehen auf einer langen Seereise. Störrische Stürme, windige Winde, entsetzliche Eisberge. Oder der Rum ist plötzlich alle. Was fast noch schlimmer ist, als irgendwo im Nirgendwo auf Grund zu laufen. Nun ist ja die Vorstellung, alles auf einem Sündenbock abzuladen, was einen stört, keine neue Idee. Man bindet dem Bock alles auf und schickt ihn in die Wüste, um sich hinter befreit zu fühlen, ohne reflektiert zu haben, welchen Mist man im Grunde selbst verzapft hat. Gut, für manches kann man nichts. Nehmen wir einmal an, ein Schiff befindet sich in einem schlimmen Sturm. Nun geht die Suche los: Wer ist der Jonas? Wer hat das zu verantworten? Gegen Gott kann man nichts tun, außer die Faust gen Himmel recken und drohen, was aber erstens nicht viel bringt und zweitens manch einem ein schlechtes Gewissen bereitet.
Der Jonas also. Wer ist es? Ist es der an Bord zurück gekehrte Geist des Katers, dem man keinen letzten Stich durch die Nase verpasst hat? Ist es der Smutje, der seit Wochen nur Dreck zusammen kocht? Ist es der Matrose, der den ganzen Rum allein gesoffen hat? Der Jonas kann jeder und alles sein. Sogar das leere Fass Rum. Man muss nur fest dran glauben. Hat man also den Jonas in Gestalt des leeren Fasses über Bord geworfen (und den versoffenen Kollegen gleich hinterher, der hat eh nur Ärger gemacht), kann man davon ausgehen, dass einen am nächsten Tag strahlender Sonnenschein und ein günstiger Wind erwarten. Das hat verblüffender Weise wirklich oft geklappt. Falls nicht, konnte man ja noch dem Klabautermann die Schuld geben. Oder wieder Gott drohen.
Jedenfalls war man immer beschäftigt, irgendwen oder irgendwas zu verfolgen oder zu bedrohen, so dass keine Zeit mehr zum Jammern blieb. So agieren ja viele Männer ihre traurigen Gefühle aus: mit Wut. Wut ist allemal männlicher als Wehklagen – oder gar Tränen.
Entschuldige, aber es gibt einfach so viele bekloppte Männer. Da du mein Freund bist und mir nie etwas getan hast, fühle dich bitte nicht angesprochen, zumal es ja auch unsagbar bescheuerte Frauen gibt.
Bei Punk fällt mir mein alter Kumpel Zottel ein – stimmt, Punks haben immer Punknamen, das gehört wohl dazu, der im Wald bei den Mülltonnen lebte. In einem öffentlichen Park. Er jammerte schon darüber, wie alt er sei, als er die 30 noch nicht erreicht hatte. Ich konnte das nicht ganz nachvollziehen, es lag ja damals noch viel Leben vor ihm, theoretisch zumindest. Allerdings trank er jeden Tag 2 Sixpacks, also 2 x 6 = 12 Halbe, das macht natürlich alt auf Dauer, könnte ich mir vorstellen. Er entschuldigte sich bei mir stets mit den Worten: „Es tut mir leid, ich bin knülle, aber ich habe nichts anderes im Leben.“ Andererseits wollte er nicht immer „auf knülle reduziert werden“, aber dafür konnte ich ja nichts. Ich weiß nicht, wie viel Leben er JETZT noch vor sich hat.
Gruß & Kuss,
deine Vida
***
Meine liebe Vida!

„Auf knülle reduziert werden“ klingt ja süß! Zottel bei den Mülltonnen im Park. Das kann man sich ja nicht besser ausdenken! Nichts im Leben haben, und dann saufen. Dazu muss man nicht mal im Wald leben. Manche Leute trinken aus Angst vor dem Leben, Angst im Allgemeinen. Das kann man verstehen. Alkohol beruhigt die Synapsen. Mut aus Flaschen.
Hysterie ist übrigens auch was Schönes. Erinnerst du dich noch an die Vogelgrippe? Die böse, böse Vogelgrippe? Die ein paar hundert chinesische Bauern von der Stange kloppte, auf der sie mit ihren Hühnern wohnten?
Ich hatte mein Lebtag keinen Kontakt zu lebenden Hühnern, und die meisten anderen Menschen hier auch nicht. Aber was war los? Seuche! Epidemie! Morgen gibt es keine Menschen mehr. Flugverbot für Zugvögel. Kein Schwan mehr in der Babynahrung. Früher musste eine Krankheit erstmal ein paar Zehntausend hinfort raffen, bevor sie sich Seuche nennen durfte.
Womit wir wieder bei Frau Rochen sind. Mit der bin ich noch nicht fertig.
Die Vorstellung, dass dort draußen solche Frauen herumlaufen, erschreckt mich zu Tode. Aus der Seele gesprochen... Aus welchem Teil wohl? Es wird dort dunkel sein und nicht gut riechen, da er offenbar nichts von Körperpflege hält.
Danke für dieses Buch... Sicher war es auch soooo befreiend. Um nun was tun zu können? Sich wieder wie eine 18-jährige Nervensäge aufzuführen?
„Ficken“ sagen, ohne rot zu werden?
Vielleicht bin ich ja in der dritten Pubertät. Frau Rochen hat mit 30 die erste noch nicht hinter sich. Mir kommt sie vor wie eine 12-Jährige, die grad ihr erstes Gummi auf eine Banane rollt.

Ich las gerade einen Artikel in der ZEIT über einen Philosophen, der einen drei Tage langen Brief an seine Verlobte schrieb, in dem er hehre und hehrste Gedanken über sich, sie und sie beide zusammen ausbreitete, es aber zeitgleich fertigbrachte, sich bei einer Dame vom Gewerbe Filzläuse einzufangen.
Das schrieb er natürlich in einem anderen Brief, der nicht an die Verlobte ging.
Es gab noch keinen Send-to-all-Button, aber aufpassen musste man auch damals schon!
Zu seiner Verteidigung könnte man höchstens anführen, dass er erst 23 war und nicht wusste, wohin vor lauter Kraft. Und er hat nach der Heirat keine derartigen Ausritte mehr unternommen. Vielleicht hat er auch bloß keine Briefe mehr darüber geschrieben.
Wird das eigentlich heute noch so gehandhabt mit dem leeren Fass Rum und dem Jonas? Vielleicht ja nicht – von wegen Fortschritt der Technik. Damit ist es natürlich auch aus mit der Romantik in der Seefahrt…Wenn man bedenkt, wie viele Gelegenheiten ein Schiff damals hatte, um in irgendwelche Kalamitäten zu geraten, müssen die Meere ja voller entsorgter Matrosen (und Bordkatzen) gewesen sein. Wäre man nach dem alten Prinzip „Wer es hat zuerst gerochen?“ verfahren und hätte den alten Spökenkieker über Bord geworfen (es ist ja immer ein alter Matrose mit weißem Bart…), der dieses Garn verbreitete, dann wäre da womöglich kein Brauch draus geworden. Und gutes Wetter hätte es am nächsten Tag sowieso gegeben. Weil ja alle ihr Labskaus aufgegessen hatten.
Dass Frauen an Bord Unglück brachten, glaube ich allerdings tatsächlich! Vielleicht nicht sofort, aber nach einer Weile, nach sechs Monaten oder so, bestimmt. Die Burschen waren in jenen Tagen noch gröber gestrickt. Wenn es dann keine  Messerstecherei gab, wurde der Rivale eben zum Jonas erklärt. Aber das Problem war damit nicht aus der Welt, nur ein Teil der Mannschaft.
Das war sicher nicht im Sinne des Kapitäns. Sublimieren konnten sie den Trieb auch nicht, denn Freud war noch nicht geboren
.
Gruß und Kuss,
Robert
***
Mein lieber Freund,
Heute auf der Vernissage einer Kollegin gewesen.
„Ach, Sie malen auch?“, fragte mich ein Gast mit weißem Kinnbart, auf den ersten Blick ein sympathischer Zeitgenosse, der mich aufgrund meiner im Kontext unpassenden Kleidung sofort als Künstlerin ausmachte. (Natürlich auch deshalb, weil ich wie wild mit meinem Katalog wedelte und Visitenkarten verteilte, als gäbe es kein Morgen mehr.) „Mein Enkel malt ja auch, aber der macht das mit Kohle.“
„Und MACHT er damit auch Kohle?“, rief meine Kollegin genervt und eine Spur zu barsch dazwischen.
„Nein, aber der ist trotzdem wesentlich begabter als SIE.“ Ein selbstgefälliges Lächeln umspielte während des Redens seine schmalen, ausgedörrten Lippen und die Runzeln um seine Augen. Mein Kinn fiel nach unten angesichts solcher Boshaftigkeit. Ich griff nach einem Glas Rotwein, das auf einem silbernen Tablett an mir vorbei schwebte, und nahm einen großen Schluck auf den Schreck.
„Wissen Sie“, holte meine Kollegin zum Gegenschlag aus, „dieses Bild ist zwischen zwei Ficks entstanden; das Helle dort zeigt die unbändige Energie des männlichen Geschlechts, das übersprudelnde Sperma, die Aggression des Testosterons, die männliche Arroganz und Blödheit. Können Sie mir folgen?“
„Unerhört!“, zischte der Alte und machte sich Luft schnappend und Stock schwingend von dannen.
Ein anderer Besucher sagte über ein Bild namens „Schwarz. Rot. Gelb.“, das müsse er nicht kaufen, das trage sein Sohn auf seinem Anorak.
Da blieb selbst meiner sonst so wortgewandten Kollegin die Spucke weg.
Du siehst, es ist und bleibt ein harter Job, zumal uns weiblichen Künstlern ja auch keine knackigen jungen männlichen Modelle zur Verfügung stehen – und so müsste es doch, dem alten Brauch folgend, – eigentlich sein.
Vielleicht sollte ich inserieren: „Malerin, Mitte 40, gerade in der 3. Pubertät, sucht männliche Muse und Modell, nicht älter als 25, Spaß am Sex wird vorausgesetzt.“ Chiffre 123zumFickengezwungen.
Natürlich werde ich das doch nicht tun – ich gehe noch nicht mal mehr aus, um Typen kennen zu lernen. Warum auch? Bin ich nicht eigentlich offiziell verlobt? Ich weiß das gar nicht mehr so genau.
Als ich siebzehn war, kam mir jeder Typ um die Dreißig, der irgendwo in einer Diskothek an der Bar saß, verdächtig vor. Jetzt ist man schon weit über das Alter dieses dubiosen Typen hinaus.
Merkt man eigentlich was, bevor man durchdreht? Ich glaub nicht, dass man noch den Hebel umlegen kann, wenn man dabei ist, richtig durch zu knallen. Oder? Das entwickelt doch dann eine Eigendynamik, die nicht mehr zu stoppen ist, wenn der Prozess erst mal am Laufen ist.
Oder aber man lebt alles in einer kranken Fantasie aus, von der Frau Roche in einem Interview zugegeben hat, dass sie im Übermaß über eine solche verfügt. Das muss auch so sein, denn einige Dinge, die sie beschreibt, sind anatomisch-physiologisch gar nicht denkbar; aber sei es drum, bitte lass uns diese doofe Tussi vergessen und über Leute reden, die wirklich was geschafft haben.
Sich zum Beispiel Matrosen am Mast zu holen und trotzdem später als Philosoph zu gelten. Von wem reden wir hier eigentlich? Mir kämen da spontan gleich ein paar Namen in den Sinn. Eine Frau hätte es mit Matrosen am Mast jedenfalls nicht zur später geschätzten Philosophin geschafft, und ohne sowieso nicht – ein Blick in die Geschichte reicht.
Darum malt der Neffe des Kinnbarts vielleicht auch heute noch besser, oder anders gesagt: Sein Gekrickel wird ernst genommen, während Frauen ja von jeher andere Aufgaben zu bewältigen haben (Kindern den Arsch abwischen und so weiter), so dass der Drang, sich künstlerisch auszuleben, höchstens noch milde als „kreatives Hobby“ bewertet wird. Auch heute noch, wo es mehr weibliche als männliche Kunsthochschul-Absolventen gibt!
Sowieso geht es nur um Beziehungen – Frau Roche hätte nie so ein Buch publizieren können, wäre ihre Fresse nicht vorher schon bekannt gewesen. Und ich mochte sie. Vorher.
Doch Schluss mit dem Mist! Kein Wort mehr darüber!
Ich bin es leid zu philosophieren, zu grübeln, zu fragen, nach Antworten zu suchen, wo es keine gibt. Ich habe Lust, mir die Decke über den Kopf zu ziehen, nachdem ich mir einen ordentlichen Schluck aus der Buddel gegönnt habe.
Wobei ich den Sahne-Whiskey lassen sollte! Lecker, aber leider hochkalorisch. Wieso mag ich Whiskey nur in der Weichei-Version, als Sahne-Likör oder Southern Comfort? Weil ich eine Frau bin?
Man weiß es nicht.
Auf deine Gesundheit stößt an
deine Vida
***
Liebe Vida!
Beim Fußball aß ich vier Currywürste und trank sechs Bier und fiel zu Hause sofort in ein Fresskoma. Mit Klamotten legte ich mich aufs Sofa und wachte erst drei Stunden später wieder auf.
Wenigstens haben sie in der V.I.P.-Loge den albernen Schokoladenbrunnen abgeschafft. Seit es den bei toom gibt, ist das nicht mehr exklusiv genug.

Gestern war ich in Friedrichsruh, um zu besichtigen, was der olle Bismarck uns hinterlassen hat. Das ist wirklich an der Peripherie! An der Peripherie der Peripherie. 15 Minuten hinter dem Ende der Welt. Da gibt es nichts. Außer Wald. Echter Wald mit Waldwegen und Waldgeruch. Der heiße Atem der Wildnis… Und einen Landgasthof, der ,natürlich, „Forsthaus“ heißt. Und damit dieselbe Frage wie alle Landgasthöfe über der Tür trägt: „Wie, zur Hölle, kommen die hier klar?“
Drinnen dann auch gleich die zweite Frage: Decken die die 50 Tische jeden Morgen ein, oder ziehen sie bloß die Planen runter?
Na, ich bin unfair. Die haben gut aufgetischt.

Ich bin so müde…
Gute Nacht, dein alter Freund Robert
***
Lieber müder Freund,
heute wieder zu viel über Zeit, Raum und das gesamte Universum nachgesonnen. Wie gesagt leuchtet mir das Prinzip der Unendlichkeit nicht ein. Auf der Erde gibt es sowas nicht. Was mir hier Angst macht, ist das unerbittliche Verstreichen der Zeit, dabei ist Zeit doch relativ, sagte Einstein, und somit müsste sie sich doch auch dehnen lassen; nun, das wäre zumindest mein Wunsch. Der Wunsch nach der Unsterblichkeit, aber ist es nicht auch langweilig, sich 1.000 Jahre lang jeden Abend einen hinter die Binde zu kippen? Das ist eine lange Zeit, in der schnell was langweilig wird. Da ist es eventuell besser, man schläft viel, in der wenigen wachen Zeit kommt man dann nicht dazu, sich zu langweilen.
Als ob ich mich langweilen würde bei der Frage, in WAS das Universum denn eigentlich drin steckt. Oder wo es aufhört. Ängstigen wäre ein zutreffenderes Wort, ja, diese ungeklärten Fragen ohne Antworten ängstigen mich. Doch stellt ein Tier solche Fragen? Nein. Vielleicht. Mein verstorbener Kater neigte zur Grübelei… Glaube ich zumindest.
Herzlichst, Vida
***
Meine liebe Vida!

Ja, du bist offensichtlich eine Frau. Wer würde das bezweifeln? Deshalb solltest du auch mit solchen Anzeigen vorsichtig sein: Wir dachten ja oft „Das kann nicht sein!“, aber mit der Zeit mussten wir erkennen, dass WIRKLICH nichts unmöglich oder noch nie da gewesen ist. Und junge Burschen, die auf Damen in den besten Jahren stehen? Huach. Das ist noch gaaaanz dicht an der Mitte. Die rennen dir die Bude ein.
Das sind eigentlich keine schlechten Aussichten, oder? Und spätestens, wenn dein Modell sieht, dass du abstrakt malst, weiß er, wohin die Reise geht...

Lass dir von einem alten Kämpfer gegen den Alkohol, der stets unterlag, sagen: Ich mag auch keinen Whisky. Auch mit Rum, Cognac, Weinbrand oder ähnlichem in der Gewichtsklasse kannst du mich jagen. Das schmeckt alles nach kommendem Brechreiz, egal was die Leute sich da einreden.
Außerdem macht Schnaps Leichen. Glaub mir, ich weiß es. Baileys, Southern, Absturz. Du spielst in der Oberliga!
Alles feiner als KORN!

Merkt man es, wenn man durchdreht? Das weiß ich nicht. Ich bin noch nie durchgedreht. Ich glaube es aber nicht. Es braucht da wohl erst deutliche Zeichen wie gepolsterte Räume und kräftige Pfleger. Ich weiß auch nicht, wann man anfängt, fliegende Untertassen oder den Mann im Ohr für normal zu halten. Ich denke, so lange man sich noch fragt „Bin ich verrückt?“, ist man noch im grünen Bereich. Kein Grasgrün. Aber Frosch auf jeden Fall.
Warum? Befiehlt dir jemand, alle zu töten?
Vielleicht hast du wirklich zu viel über den Rand des Universums nachgedacht?
Das ist ein weites Thema. Interessant, sicher, aber nur am Rande wichtig für die Gesamtsituation.
Gibt es nicht Fragen von ähnlicher Bedeutung?
Ist die Hose eingelaufen?
Bin ich das da im Spiegel?
Warum läuft auf 30 Kanälen nur Mist?
Warum hab ich das Bild nach drei Gläsern Wein versaut?
Bin ich nur von Idioten umgeben?
Oder:
Warum immer ich?
Warum wird alles immer teurer?
(Was nicht stimmt: Chilisauce ist billiger geworden. Und Bier auch!)
Warum stimmt es nicht, dass früher alles besser war?
Warum beschlägt mein Fernglas nur dann, wenn ich es brauche?
(Lass dir eins gesagt sein: Um den Weltraum zu begreifen, braucht es mehr als ein Fernglas…)

Einstein sagte übrigens auch: „Zeit ist das, was auf der Uhr steht.“ Was uns zeigt, dass der Mann noch schlauer war, als gemeinhin angenommen!
Und selbstverständlich lässt sich die Zeit dehnen. Denk bloß mal an den Sonntagnachmittag. Leute wissen nicht, was sie da tun sollen, und wollen auf der anderen Seite 400 Jahre alt werden. Wofür? Um länger rumdröhnen zu können? 100 Weltmeisterschaften gucken? Und dann die Endspiele aufzählen?
Oder stell dir vor, dein Verein liegt nach 80 Minuten 1:0 vorne. DAS ist Zeitdehnung, wie Einstein sie sich nicht mal vorstellen konnte. Ich rede mir dann immer ein, sie lägen 1:0 hinten und, schwupp, schon läuft die Uhr wieder vorwärts.
So ein Stadion ist auch ein Kosmos für sich.
Und auf den besseren Plätzen sitzen keine besseren Menschen. Oder schlauere. Sie haben nur mehr Geld. Dass sie nicht besser sind, kann man daran sehen, wie sie sich am Currywurst-Stand anstellen. Dass sie nicht schlauer sind, erkennt man daran, wie sie sich benehmen: Gebalge um die erste Grillstation, als gäbe es kein Morgen oder wenigstens keine Currywurst mehr. Die ZWEITE Grillstation daneben: Da bediene ich mich. Aber das kommt davon, wenn der eine Gedanke das Gehirn zerfrisst: in 15 Minuten soviel wie möglich
in sich hineinzustopfen. Schließlich war die Karte teuer.
Derartige Beobachtungen waren Denkern früherer Jahrhunderte natürlich nicht möglich.

Ich hab grad nach dem Universum geschaut. Es ist immer noch da. Das sollte uns beruhigen.

Neulich war ich wieder im Steigenberger und kam mir furchtbar kultiviert vor.
Es gab drei Gänge und Debussy. Oh ja.
Da wurde geperlt: Sekt im Glas, Regen auf dem Glasdach und die Pianistin auf dem Piano. Obwohl, Debussy perlt eigentlich nicht. Der Mann war seiner Zeit ja weit voraus... Manches kannte ich aus der Fernsehwerbung. Anderes klang ein bisschen wie Stummfilmmusik.
Du weißt schon: Charlie Chaplin rennt die Rolltreppe runter, hinter ihm der Kerl mit dem schwarzen Bart. Debussy zog mit Anfang 20 auf den Montmartre und ließ sich von seiner Freundin aushalten, weil er als Künstler ja nix verdiente. Bohème aus dem Bilderbuch.
Und es kommt noch besser: Man weiß nicht, „woher sie eigentlich das Geld hatte“!
Will sagen: Man kann es sich vorstellen...
Auch da war er sehr modern. Oder vielleicht auch nur pragmatisch.
Als er sie verließ, versuchte sie sich umzubringen, schoss aber daneben.
Sowas dürfte sich keiner ausdenken!

Solches und ähnliches erfährt man zwischen Vorspeise und Hauptgang.
Da gab es dann allerlei Gerolltes, Geschäumtes und Gedämpftes der Saison. Das meiste hab ich sogar erkannt. Eine Himbeere war auch im Spiel. Und deren kleiner Freund, das Minzsträußchen.
Aperitif, Rotwein, Digestif. Obwohl es gar nichts zu digestieren gab.
So ein Fünf-Sterne-Haus hat schon was für sich!
Da stellt man sich Fragen wie: „Warum schmecken Flusskrebse salzig?“ oder: „Wie schaffen es diese Möhren, alle gleich lang zu sein?“
Wie gesagt: furchtbar kultiviert.

Aber dazu wird natürlich eine Gefahr serviert:Wenn man sich erstmal an das Niveau gewöhnt hat, kann es da draußen ganz schrecklich werden. Denk bloß ans Maybach mit seinen Pizzaspezialitäten...
Ich habe in Kowalkes Fischbratküche mal den optimalen Sekt getrunken und bin seitdem für den Rest verdorben. Mit dem Zeug aus dem Suppenmarkt braucht mir keiner mehr zu kommen.
Immerhin komm ich so auch nicht mehr in Versuchung und kann das Geld sinnvoller ausgeben, zum Beispiel für Bier...

Hast du die Schlagzeile in unserem örtlichen Käseblatt gelesen?
„Schwarze Messen auf dem Ohlsdorfer Friedhof!“
Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen! Da tauchten sie wieder auf, die wankenden Gestalten, die um irgendeinen albernen Altar herum waberten, um Ich-weiß-nicht-was zu bewirken... Den Satan zu rufen, vermutlich. Drei Schritte vor und drei zurück. KULT!!!
Dass es das noch gibt! Über die Meldung haben wir uns doch schon vor 30 Jahren beölt. Ich dachte, sie wäre längs ins News-Nirvana eingegangen und lebt mit dem Riesenmeteor glücklich auf Mallorca. Und jeden Abend gehen sie spazieren und lassen Nessie Stöckchen holen. (Obwohl, neulich las ich, Nessie sei tot! Sie hätten komische Knochen am Loch Ness gefunden! Dazu fällt mir gar nichts mehr ein. Was soll man denn davon halten?)
Was machen die Satanisten, wenn Satan tatsächlich mal erscheint?
Sich in die schwarzen Hosen?
Lass uns noch eine Weile dubios bleiben...
(Himbeeren sind was Geiles!)
Dein Robert
***
Lieber Robert,
du, ein Kämpfer gegen den Alkohol? Ich wollt schon sagen… Du kämpfst doch seit Jahrzehnten gegen ihn, indem du so viel wie möglich davon vernichtest! Ha! Ich kenne doch deine Strategie!
Wodka ist gut. Das ist reines Lebenswasser. Kartoffelschnaps. Kartoffeln sind gesund! Da kann niemand was gegen sagen. Ein pures Elixier, das gegen einfach alles hilft. Manche Leute trinken Wodka mit Himbeeren, aber das ist mir zu bunt. Ich will es roh und unverfälscht; obwohl Himbeeren prima sind, zum Beispiel heiß auf Vanilleeis.
Den besten Rotwein meines Lebens trank ich in Horst Jansens Lieblingsrestaurant. Was mich aber nicht davon abgehalten hat, weiterhin alle möglichen anderen Rebsorten durchzuprobieren. Auch die ganz schlechten aus dem Karton. Es hilft ja nichts! Es muss ja alles im Fluss bleiben.
Beim Thema Wodka fällt mir ein russischer Maler ein, mit dem ich mal kurz liiert war. Natürlich hat ihn meine Arbeit nicht die Bohne interessiert. Denn ER war ja der Künstler. Er hat sich höchstens mal zu einer niederschmetternden Kritik über meine Arbeiten hinreißen lassen, aber sonst ging es allein um ihn. Ich erinnere mich an stundenlange Ansprachen und Erklärungen. Und er habe eine „schreckliche Kindheit“ gehabt (wie vermutlich die meisten von uns, naja, ich will nicht gehässig sein) – er sei gar „Bettnässer“ gewesen (*kreisch*). Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er das erzählte, weil ich bei dem Wort Bettnässer immer an Woody Allen denken muss und die Mutter, die am Himmel über ihm und Manhattan schwebt und es der ganzen Welt verkündet, in den New-York-Stories.
Deine Vida
P.S.: Ein Goth wartet nicht auf die Ankunft des Teufels. Er ist halt schlecht drauf, kleidet sich schwarz, versucht, seine Umwelt zu irritieren und hört gute Musik. Wenn ein Besuch auf dem Friedhof hilft, auch okay. Das ist doch lediglich die Fortsetzung des Punk – eine Strategie der Rebellion. Nur dass das nicht mehr klappt heutzutage – denn zu sehr hat sich die Gesellschaft an den Goth und seine Spielarten (Mittelalter, BDSM, Vampire, Mode-Schwarze usw.) gewöhnt. Wer da noch erschrickt, kann nicht alle Tassen im Schrank haben. Richtige Satanisten dagegen gehen nicht auf Friedhöfe, sondern organisieren sich in Orden. Obwohl ich nicht verstehe, wieso man einerseits so anarchisch sein kann und andererseits so konservativ. Muss wohl ein Männerding sein. Hexen hexen allein im Wald oder in der Küche, die Magier organisieren sich in komplizierten Hierarchien, wie beim Militär! Der Admiral und der oberste Meister vom hohen Stuhl. Zum Brüllen. Eine Hexe braucht kein Rangabzeichen. Es reicht, wenn alle Kinder vor ihr Angst haben.
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Meine liebe Vida!

Das ist schon alles komisch im Leben.
Auch die Liebe ist ein seltsames Spiel...
Ein Mann liebt seine Frau, seinen Hund und sein Auto, und alle auf verschiedene Weise. Hoffe ich zumindest. Wenn er so gar kein Leben hat, liebt er wenigstens seinen Verein. Oder Fußball, Skat, Schlümpfe aus dem Ü-Ei. Whatever. (Ich merke grad: Kinder kamen in meiner Aufzählung nicht vor. Die neue deutsche Kleinfamilie: Mann, Frau, Hund. Hm.)
Aber wie will man das einordnen? Es gibt ja keine Tabellen und kein Koordinatensystem fürs Wie und auch kein Thermometer fürs Wieviel.
Da muss ich an den Mann mit dem talentierten Enkel denken, auf der Vernissage deiner Kollegin: Der hatte bestimmt ein Talentometer in der Tasche!
Zumal Talent allein ja nichts bedeutet. Talent ist ein Versprechen, eine Möglichkeit. Konjunktiv.

Apropos Dämlichkeit: Ich kann es nicht mehr hören, wenn Leute ihre Kindheit als Rechtfertigung heran zerren, um sich wie ein Arsch aufzuführen! Kater Karlo hat das vor Gericht auch gesagt: „Immer gab es Aprikosenmarmelade und nie Himbeergelee!“ Tragisch. Da muss einer ja kriminell werden.
Das würde doch bedeuten, dass dieser Jemand seit damals zu keinen neuen Einsichten gekommen ist. Die Frage stellt sich doch jeder sofort: „Wenn es so schrecklich war, was hast du daraus gelernt? Was würdest du anders machen?“
Außer zum Beispiel peinliche Stabreime verzapfen, wie manch ein melancholischer Grufti…

Nicht aufregen. Nicht aufregen. Bringt nichts. Bringt nichts.
Da denk ich doch lieber an was Erfreuliches, zum Beispiel an Dich.
Und selbstverständlich kenne ich den Film von Woody! Jahaha.

Dein Robert
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Lieber Robert,
Irgendwie bin ich zurzeit schlecht drauf. Wie der erwähnte melancholische Grufti.
Es ist alles so deprimierend. Manchmal ist ALLES einfach nur furchtbar, ohne dass man genau weiß, woran es liegt. Man könnte so dankbar sein, und doch will es nicht gelingen, wenn die Melancholie das Ruder an sich reißt.
Hab ich schon erwähnt, dass ich fett bin?
Ich war doch mal so dünn!
Mir geht es immer noch zu gut, scheint mir. Ich brauch den Ärger, um schlank zu bleiben.
Es grüßt dich ganz lieb:
deine dicke Künstlerin Vida
***
Meine liebe Vida!

Stell dir vor, ich habe seit neuestem ein gebatiktes T-Shirt! So eine Überraschung! Wie es dazu kam? Ich male ja ab und zu auch. Gestern zum Beispiel die Küche meiner Mutter. Sie ist 80 und nicht mehr so gut auf der Leiter. Herr Oberschlau, also ich, hat hinterher die ganzen Malerklamotten ins Waschbecken gestampft, nicht ahnend, dass die Hose noch nach 20 Jahren in der Lage ist, Wasser Gothic-Lila einzufärben. Das war noch Qualität!
Nun hab ich ein wildes Hemd und drei Wochen ein lila Waschbecken.
Und wieder mehr Achtung vor Handwerkern.
Du bist nicht fett, du bist einfach zu selbstkritisch!
Zu dem Thema hat der alte Wilhelm Busch schon was Schönes geschrieben:
>> Die Selbstkritik hat viel für sich.
Gesetz den Fall, ich tadle mich:
So hab ich erstens den Gewinn, dass ich hübsch bescheiden bin.
Zum Zweiten denken sich die Leut,
der Mann ist lauter Redlichkeit!
Auch schnapp ich drittens diesen Bissen
vorweg den andren Kritiküssen.
Und viertens hoff ich außerdem
auf Widerspruch, der mir genehm.
So kommt es dann zuletzt heraus,
dass ich ein ganz famoses Haus.<<

Und: Lieber dick als dumm, sage ich da. Das kann man noch ändern.
Dir spielt wieder der weibliche Blick fürs Detail Streiche. Männer übersehen zwar rattengroße Staubmäuse, aber dafür bei Frauen auch Änderungen bis zu fünf Kilo. Bei sich selbst können es gerne mal 10 oder 15 werden...
Und dann müssen sie sich ständig fragen, wo ihre Haare geblieben sind (wahrscheinlich da, wo auch die linken Socken hingehen), und ob ihr Teil wirklich groß genug ist. Sie haben ja immer den Verdacht, dass die Frauen ihnen da nicht die Wahrheit sagen. Und haben keinen Vergleich. Außer natürlich im Swingerclub.

Melancholisch war ich auch mal. Und ich weiß bis heute nicht, wieso.
Jeden Abend habe ich ins Spülwasser geseufzt. Es mag an dem schrecklich melancholischen Film gelegen haben, den ich mir fünfmal angeguckt habe. Sogar dreimal im Original. Warum denn fünfmal, fragt man sich hier sofort?
Na, er war gut gemacht. Mit Johann Depps Stimme. Was für ein Blödsinn...
Und mit dem Stichwort Blödsinn war die halbe Melancholie schon weg.

Dein Quizmaster Robert
***
Lieber Robert,
mir fällt irgendwie nichts ein, was ich dir mitteilen könnte. Es ist nichts passiert. Ich bin müde und träge und deprimiert. Ich liege im Bett, rauche, trinke Wein und lese „Shades of Grey“. So ein Scheiß! So schlecht, dass ich schon das dritte Buch der Trilogie lese, weil man ja nie weiß, ob man nicht doch was verpasst…
es grüßt dich von Herzen
deine Vida
***
Meine liebe Vida!

Für mich wäre BDSM nichts. Es ist so ziemlich die umständlichste Art und Weise Sex zu haben, die ich mir vorstellen kann, und außerdem muss ich immer lachen, wenn ich mir sowas vorstelle.

„Kriech, du Wurm!“
DA! Schon wieder!
Zu lachen wäre nicht passend in solch einer Situation, denke ich.

Ich las mal über Damenoberbekleidung: „So eng, dass man sieht, es ist eine Frau, so weit, dass man sieht, es ist eine Dame!“
Dein sich fragender, wohin das alles noch führen soll
Robert
***

Lieber Robert,
Marcel Duchamp sagte einmal: „Ich glaube, die Kunst ist die einzige Tätigkeitsform, durch die der Mensch als Mensch sich als wahres Individuum manifestiert.“ Und so habe ich mich heute manifestiert und zum Pinsel gegriffen, des trägen oblomowschen Im-Bett-liegens müde.
Was den Menschen noch vom Tier unterscheidet: Das Tier macht zwar Türen auf, aber niemals hinter sich zu, während allein der Mensch Türen verschließt.
Da frage ich mich, ist das Tier einfach so doof und gedankenlos oder aber am Ende viel weiser als der Mensch, indem es sich nicht begrenzen lässt und seine Freiheit auslebt.
Ich denke, du würdest antworten: „Nein, das Tier ist dämlich und der Mensch schlau, denn der Mensch verhindert durch das Verschließen von Türen Einbrüche und sichert so sein Hab und Gut, um zu überleben.“
Das macht Sinn, aber ich würde zu bedenken gäben, dass sich im Pelz von Tieren nicht mal Taschen befinden, von „Besitz“ ganz zu schweigen. Das Tier belastet sich nicht mit Materiellem, es lebt von der Hand in den Mund bzw. von der Pfote ins Maul, und wenn es mal keinen Bock hat, bleibt es am Morgen einfach liegen. Wie ich. Da gibt es wieder eine Gemeinsamkeit!
Ich bewundere ja Katzen für dieses Talent, sich nur so viel zu rühren, wie eben zum Überleben nötig ist. Eine Maus, Gazelle oder sonstwas fangen, es sich schmecken lassen, und wieder schlafen oder sich wohlig in der Sonne räkeln, die Gedanken schweifen lassen und die Seele baumeln.
Der Mensch dagegen ist oft so ein Hektiker, der in kürzester Zeit viel schaffen muss, um sich gut zu fühlen, beziehungsweise seine Berechtigung auf eine Existenz zu beweisen. Viel schaffen, viel anschaffen vor allem, um vor den Kollegen mit den neuesten technischen Errungenschaften anzugeben. Und am Schluss, wenn der Job und das Geld futsch sind, bleibt nichts mehr, schon gar keine Selbstachtung; das passiert, wenn man sich allein über seine Wichtigkeit und den Besitz definiert.
Der Künstler dagegen lebt für seine Passion. Das Tier lebt einfach. Weil es lebt. Weil es grad mal da ist und nichts anderes zu tun hat.
Wenn ich mal wieder nicht weiß, wozu ich lebe, lenke ich mich gern mit lesen ab. Auch wenn es Müll ist. Es gibt Leute, die haben noch nie ein Buch gelesen, was ich mehr als bedenklich finde. Ist das nicht gar schon gefährlich? Auf jeden Fall gefährdet Lesen die Dummheit.
Ich blättere auch gern in meinem Künstlermaterial-Katalog, der dicker ist als die Bibel und das Telefonbuch zusammen. Dort kann man dann beruhigende Sätze über Pinsel lesen, zum Beispiel über den „Da Vinci-Top-Acryl“:
„Der Top-Acryl-Pinsel mit hochwertig auf Schluss präparierten weißen Synthetikfasern, nahtloser Silberzwinge und langen, anthrazit lackierten Esagonalstielen eignet sich sehr gut für pastoses, plastisches Malen und flächigen Farbauftrag. Der Pinsel wurde in Zusammenarbeit mit da Vinci (die Firma, nicht der Maler, Anm. Vida) entwickelt und wird exklusiv gefertigt.“
Das ist doch mal was, oder?
Einer meiner liebsten Pinsel ist ja übrigens der sogenannte Katzenzungen-Pinsel, der nicht aus Katzenzungen gefertigt wird (auch wenn Katzenzungen schön rau sind), sondern in Form einer Katzenzunge angeordnet.
In dem Katalog lernt man auch was über Zoologie, zum Beispiel in dem Kapitel „Die Herstellung von Pinseln“:
„Der Iltis ist eine Marderart, die über ganz Europa, Nordafrika und Asien verbreitet ist. Zur Pinselherstellung verwendet man vor allem die Schweifhaare des russischen Iltis und des polnischen Landiltis. Das kräftigere, schwarze bis bräunliche Haar des polnischen Tieres ist preiswerter als die feineren, selteneren Schweife des gelb graumelierten russischen Iltis.“
Da bist du platt, oder? Oder hier, Wissenswertes über Dachshaar!
„Für die Gewinnung von Pinselhaaren wird das gesamte Fell des türkischen und chinesischen Dachses verarbeitet.“ Das muss ein dicker Pinsel sein.
Der Katalog gibt auch einen Einblick in die Geschichte:
„Der Pinsel gehört zu den ältesten bekannten Handwerkszeugen des Menschen. Die weltberühmten Malereien und Materialfunde in der Höhle von Altamira in der nordspanischen Provinz Santander belegen, dass bereits der Urzeitmensch den Pinsel kannte und mit diesem Instrument arbeitete.“
An dieser Stelle fällt mir mein Vater ein, der sich kürzlich für einen besonderen Zweck einen Pinsel aus Elchhaar selbst bastelte. Es gibt wenige Personen, die einfach so Elchhaar im Keller rumliegen haben. Mein Vater ist einer von ihnen. Der Stiel und die Zwinge sahen recht professionell aus, das Haar am Pinsel dagegen wie der Bart eines nordischen Urzeitmenschen. Irre! Hätten noch die Augen unterhalb der Zwinge gefehlt, und der Pinsel hätte eine eigene Show moderieren können, vielleicht im Bayerischen Fernsehen, urig genug dazu sieht er allemal aus.
Was wollte ich jetzt eigentlich schreiben? Ich bin völlig vom Thema abgekommen. Wenn es denn eins gab…
Ich warte gespannt auf Neuigkeiten von Dir, bis dahin studiere ich weiter aufmerksam meinen Material-Katalog.
Herzliche Grüße sendet dir
Deine Vida
***
Meine liebe Vida!

Ich würde doch nie sagen, dass Tiere dämlich sind! Das sind sie nämlich nicht, obwohl sie manchmal den Eindruck machen. Eine Katze springt auch zweimal auf dieselbe heiße Herdplatte. Oder denk an den Hund vor der automatischen Tür. Tragisch... Sie werden es nie begreifen.
Fairerweise muss man sagen: Da, wo Hund und Katz herkommen, hat man sie auf solche Dinge nicht vorbereitet. Tiere machen eben das Beste aus dem, was ihnen Mutter Natur mitgegeben hat. Für sie ist es darum nicht nachlässig oder blöd, die Tür nicht wieder zuzumachen, sondern schlicht logisch: Wenn man ein Hindernis mit Mühe aus dem Wege geräumt hat, warum es hinterher wieder hinstellen?

Türen verhindern keine Einbrüche. Sie machen sie erst möglich! Da muss man erstmal drauf kommen! Ich denke, die Ur-Tür an sich war nicht zum Schutz irgendwelchen Eigentums gedacht. Man hätte sie wahrscheinlich mit einem angespitzten Stock öffnen können. So wie der Mensch ein paar zehntausend Jahre vorher zur Natur sagte: „Du: da draußen! Ich: hier drinnen! Und zwar bis auf Weiteres!“, hatte die Tür wohl eher symbolischen Charakter, auch wenn der Gedanke dahinter nicht so weitreichend war. Vermutlich war irgendwer es leid, dass dauernd Leute durch den Vorhang schauten und in die Suppe quatschten.
Wenig später, wahrscheinlich noch in derselben Woche, merkte der Türbesitzer, dass auch weniger Sand in der Bude war. Und wer mag schon kratzige Laken? So einen Bonus nimmt man doch mit. Und bis heute kannst du Menschen praktisch unbegrenzt komprimieren, wenn nur jeder eine Ecke hat, wo er mal allein sein kann, wo er „die Tür hinter sich zumachen kann“.
Im schlimmsten Falle muss das Klo herhalten.

Tiere sind meiner Meinung nach auch nicht gelassen oder frei: Sie strengen sich eben nur dann an, wenn es sich lohnt; wenn es sich also um Fressen, Fortpflanzen und Gefressenwerden dreht. Ansonsten machen sie, was sonst noch wichtig ist, und das ist im Wesentlichen gar nichts. Warum auch? Kostet nur Kraft und Kalorien.
Das wäre mir nicht genug. Es würde sich aber sicher kein Tier beschweren, wenn es zu wenig zu tun und zu viel zu fressen hätte. So wie wir. Und ich weiß auch nicht, ob es nicht ein bisschen Freiheit gegen eine Tür tauschen würde, zum Beispiel wenn mal wieder der Bär oder der Winter vor derselben steht.
Und die Freiheit? Hm. Das Tier tut ja nicht, was es will, sondern was es muss.
Oder eben nicht.
Gut, es braucht keine Rücksicht zu nehmen auf irgendwas oder irgendwen und kann sich holen, was es braucht, wann immer und wo immer es ihm gefällt.
Solche Leute sind keine angenehmen Zeitgenossen... Dafür bekommt es dann auch die Schattenseiten mit: Wenn einer daherkommt, der stärker ist, bleibt ihm eventuell nur die Wahl zwischen Tod im Kampf oder Tod durch Verhungern.
Das würde mir nicht gefallen.

So oder ähnlich sieht dann ja auch die Freiheit des Künstlers aus: Wenn er Glück hat, kann er seine Berufung zum Beruf machen und lebt wirklich ziemlich zwanglos daher. Wirklich sein eigener Herr! Oder in deinem Fall deine eigene Dame.„Ich bin meine eigene Dame“??? Klingt seltsam.
Hat er aber Pech, dann steht er nackt da und rennt zum Sozialamt. Und da wäre mancher lieber tot...
Ich weiß darum auch nicht, ob ich sie beneiden oder bedauern soll, also die Künstler jetzt, nicht die Tiere: Beneiden, weil sie für ihre Hirngespinste jede Menge Geld und Aufmerksamkeit bekommen, was sie in ihrem Wahn noch bestärkt, oder bedauern, weil sie Jahre und Jahrzehnte vor sich hin werken und niemand auch nur Notiz davon nimmt. Aber es gibt ja immer sone und solche. Überall.

Für diesmal küsst dich
Robert      
                                                         ***
Hallo Robert!
Okay, es tut mir ehrlich leid, wenn ich dir einen Gedanken unterstellt habe, den du niemals denken würdest; aber mit einem irrt du dich gewaltig: Katzen springen nicht zweimal auf eine heiße Herdplatte! Nein! Niemals! Ich als Frau, die ein halbes Leben mit Katzen zusammen gelebt hat, habe da die Peilung und sage: Katzen sind im Gegensatz zu Hunden nicht dumm! Mein Kater Mephisto sprang ein einziges Mal in seiner Jugend auf den Herd, nicht ahnend, dass ich gerade Spaghetti gekocht hatte und eine Platte noch heiß war. Wie von der Tarantel gestochen schoss er fast zeitgleich zurück auf den Fußboden und leckte sich die heißen Ballen seiner Tatzen. In seinem ganzen langen weiteren Katzenleben sprang er nicht ein einziges Mal wieder auf den Herd. Vielleicht setze er mal probeweise eine Pfote auf ihn, wenn er seines Weges von der Spüle her schlenderte, aber niemals, niemals wieder hat er sich die Füße verbrannt.
Überhaupt war er ein kluges Tier. So ersann er immerzu komplizierte Opern, während ich profane Bücher las, er schaute mir dabei hin und wieder gelangweilt über die Schulter, erkannte den Schund, und widmete sich seinen eigenen schöpferischen Aufgaben.
Zahlreiche Opern ersann er, die leider verschollen sind, weil er zu der Zeit auch noch nebenbei auf einem Fischkutter arbeitete, um Geld zu verdienen, und das war kein Spaß, wie man sich denken kann, sondern harte Knochenarbeit! So weiß ich nicht, wo all diese genialen Einfälle geblieben sind, nun, er hat sie mit ins Grab genommen, denn nichts, was man wirklich besitzt, geht jemals verloren, merk dir das, mein lieber Freund, für den Rest deines Lebens!
Mephisto war auch ein Meister im Zuhören, und er hat nie einer Menschenseele auch nur ein Sterbenswörtchen von dem verraten, was ich ihm im Stillen, im Geheimen, anvertraute. Er hörte mir stets mit großer Gewissenhaftigkeit zu und ersann allerlei Lösungsvorschläge, und wenn sie nur darin bestanden, mir den Bauch mit seinen pelzigen Füßen zu kneten. So eine Katze lacht sich sowieso den ganzen Tag nur über den Menschen kaputt, der sich dafür abrackert, sich einen einigermaßen annehmbaren Lebensstil zu sichern und – wo er grad dabei ist: Katzenfutter zu kaufen. Mein Kater hat mich in kurzer Zeit dahingehend manipuliert, anstelle des billigen, verwässerten Kitekats oder Krokras von Aldi, für das sich an sich keine Katze zu schade ist, es zu fressen, wenn sie Not gewohnt ist, nur noch teures, leicht vorgegartes Putenfleisch zu kaufen und Fisch zu kochen, der teurer war als meine eigene bescheidene Monatsration an Lebensmittelvorräten.
Die Leber, die mein Vater ihm einmal kochte und in liebevoller Kleinstarbeit zerstückelte, spuckte der gelehrte Kater allerdings im hohen Bogen wieder aus, nachdem er drei Bissen nachdenklich zerkaut und für ungenießbar befunden hatte. Vermutlich zu hoher Gamma-GT-Wert, keiner weiß es genau, aber Schweine trinken ja kaum, oder?
Der zweite Punkt, der mich an deinem Brief erbost, Robert Stanislawski, und ja: Ich BIN meine eigene Dame!, ist der, dass du einfach so schnöde mal daher behauptest, dass Künstler wahnhaft Hirngespinste verfolgen, für die sie – deiner Meinung nach – zu Unrecht angehimmelt werden! Da muss und werde ich mit aller Gewalt widersprechen, denn: Ich als Frau und als Dame und als Künstlerin bin es wert, angehimmelt zu werden wegen meiner Kunst, die ich schaffe, Tag für Tag im stillen Kämmerlein, denn ich erschaffe Welten, ganze Universen, meinen ganz eigenen Sinn – wer kann mir das Wasser reichen, ein Astrophysiker wie du? Du, der du mir nicht einmal erklären kannst, wo das Weltall anfängt und wo es aufhört? HA! Da lache ich zu Recht und wappne mich für die nächste rhetorische Bombe.
Ich beneide auch keinen deiner Zunft, du machst doch nichts anderes als mit einem riesigen Fernrohr in den Himmel zu gucken, und am Ende verstehst du nicht mal den Unterschied zwischen dem Mond und einer Silvesterrakete! Ich dagegen besitze eine Signalpistole, ich kann den Mond für dich imitieren, ja, und all deine Astronomenfreunde werden denken, es sei ein neuer Meteor im Anmarsch, genau!
„Hirngespinste“, wenn ich das schon höre, ich erschaffe aus dem Nichts, somit bin ich nichts weiter, und das sage ich in aller Bescheidenheit, als GENIAL. Und besteht Normalität in dem Bestreben, sich wie die viehische Masse zu verhalten?
Gut, es gibt zweifelsohne selbsternannte Künstler, die haben einen Knall von der Größe, dass selbst der Urknall himself noch vor Ehrfurcht und Neid erzittert, du als Astrophysiker wirst verstehen, was ich sagen will, doch persönlich angreifen lasse ich mich nicht, ich widerspreche, in jeder erdenklichen Form und mit Nachdruck!
Geld bekomm ich auch keins, höchst selten zumindest, gerade so, dass es mich vor dem Gang zum Sozialamt bewahrt, von Anerkennung ganz zu schweigen, davon abgesehen ist mir die Meinung der Leute doch scheißegal, ich bin mir selbst genug, so sehr kreise ich um mich selbst, und ich bin stolz darauf. Mich interessieren keine Meinungen Dritter, mich interessiert im Grunde nichts außer mein persönliches Wohlbefinden, das kann man ruhigen Gewissens so stehen lassen, nein, ich werde keine Schuldgefühle bekommen, nur weil ich sage, was ich denke.
Der Wahn – der Wahnsinn – was mag das sein? Warum ist das so negativ besetzt? Was ist mit: „Das gefällt mir wahnsinnig gut“? Der Wahnsinn ist nichts als ein Sinn mehr, an anderen Orten wird so jemand als Guru verehrt, ja, als Heiliger.
Denn nur ein Wahnsinniger, also jemand, der durch die größte Scheiße gewatet ist, kann die Befindlichkeiten seiner Mitmenschen nachvollziehen und demzufolge etwas dazu sagen, wobei Empathie wieder so eine Sache ist, denn empathisch zu sein, heißt, mitfühlend zu sein, also Gefühle zu haben, und Gefühle sind meistens nichts als kontraproduktiv – reine Duselei… Obwohl ein Psychoanalytiker dagegen halten würde: „Gefühle sind das Beste, was wir haben.“
Die Fischer, mit denen ich manchmal abhänge, haben das Eins-A drauf: Bier bestellen, rauchen, rumdröhnen, noch nen Bier bestellen, fünf weitere dazu, damit die Barfrau immer was zu tun hat und die Kneipe nicht blöderweise zu früh dicht macht. Und immer nörgeln, nörgeln, nörgeln. Über die Fischfangquote, die feindlichen Fischer im anderen Hafen, die vermeintlich mehr fangen und größere Gründe haben – Fischgründe, nicht Gründe, um sich zu besaufen. Die haben wir ja alle. Saufen tut ja jever, äh, jeder.
Wieso bin ich schon wieder beim Saufen angelangt??? Unfassbar. Meine Leber ist so rein wie eine reine Jungfrau nur sein kann. Ich saufe doch nicht. Oder zumindest scheint meine Leber nichts krumm zu nehmen, und so schließe ich sie abends denn auch in meine Gebete ein, die ich ausschließlich an mich selbst richte, denn ich bin meine eigene Göttin, äh, Dame.
Ich wollte eigentlich reden vom Meer, denn es fehlt mir sehr.
„SEE!“, würde mein Vater brüllen, „es heißt SEE! Kein Seemann wird jemals Meer sagen, das ist was für schwule Nattern!“
Nun gut, ich erlaube mir hin und wieder, verschiedene Begriffe zu verwenden.
„Als Künstlerin“, würde ich meinen alten Herren belehren, „benutzt man gern Synonyme, um sich nicht ständig zu wiederholen.“
„WAAAS?“, würde mein Vater als Antwort schreien, er hört nämlich nicht mehr gut.
Aber ich will dich nicht mit meinen Familiengeschichten langweilen.
Mein Vater, den ich übrigens sehr liebe, wie auch meine Mutter, wie auch alle möglichen anderen Leute, aber dazu muss ich richtig angetrunken sein, was für meine Eltern nicht gilt, die liebe ich auch so, naja, vielleicht meinen Mann noch und eine oder zwei gute Freundinnen dazu, und vielleicht einen temporären Liebhaber, wenn sich die Gelegenheit ergibt, aber das tut nichts zur Sache… also, jedenfalls erzählte er mir bei einer Kiste Rotwein und 45 Schachteln Navicut-Cigarettes, dass die Seeleute sich früher Zöpfe machten, weil hundert Jahre unterwegs und kein Friseur in Sicht. Als Zopfgummi diente eine gegerbte Aalhaut, die ein Kollege mit Teer bestrich und somit für Jahrzehnte ins Haar betonierte.
Zur Veranschaulichung hielt mir mein Vater eine getrocknete Aalhaut unter die Nase. Meine Bewunderung abwartend, suchte er dann noch nach einer alten Steinbutthaut, die mich etwas mehr begeisterte als die Aalhaut. Die Steinbuttnoppen sollen sich ja gut im Portemonnaie machen, als Glücksbringer und Garant für Kohle ohne Ende.
Und außerdem ist Fischfett gesund, genau wie Rotwein.
Ich trinke ja nur noch Fischöl und Rotwein, essen tu ich nichts mehr, sonst werde ich zu dick.
Tja, Robert, erklär mir das Weltall und den Beginn der Zeit, und ich will noch mal ein Auge zudrücken über das, was du über Künstler und Katzen behauptest hast.
Deine Freundin Vida von Wildenstein
***
Meine liebe Vida!

Ich? Dich direkt angreifen? Wie kommst du da drauf!? Das würde ganz anders klingen. Ich würde zum Beispiel behaupten, dass du nichts arbeitest, bei Lust und Laune ein paar Leinwände voll schmierst und ansonsten nur pennst und Rotwein vernichtest.
Wenn du dann was verkaufst, würde ich sagen, dass manche Leute mit Scheiße noch Geld verdienen. Du würdest es merken...

Ja, warum kommt das Wort Wahnsinn so schlecht weg? Woran mag es liegen?
Ein paar tausend Jahre Erfahrung? Warum kommt das Wort Arschloch so schlecht weg? Jeder hat eins und braucht es sogar, aber trotzdem...
Einer der Vorfahren des >>Wahnsinns<< bedeutete >>neben der Spur sein<<, und man musste zu allen Zeiten schon weit neben der Spur sein, um sich das Prädikat zu verdienen. Verschroben, spleenig, wunderlich, hysterisch oder mir vorstellen, dass meine Katze Opern schreibt, reichen da nicht aus.
Bedauernswert auch, wer solche Leute als Guru oder Heilige braucht. Bedauernswert, wer überhaupt Gurus oder Heilige braucht. Aber dazu muss ich ja nichts sagen. Dem einen sein Guru, dem anderen sein Scharlatan, Märtyrer oder Terrorist, Gott oder Popanz.

Was heißt, du willst nichts mehr verstehen? Das verstehe ich nun nicht! Das ist doch beschränkt. Ich meine, du beschränkst dich selbst. Und grad als Künstler solltest du doch an maximalem Input für optimalen Output interessiert sein. Denke ich. Ein neuer Gedanke entsteht aus zwei alten. Inspiration braucht Erfahrung. Und das darf gerne mehr sein als alle verfügbaren Drogen durchzuhecheln oder die Menschheit mit meiner Borderline zu langweilen...
Ich möchte am liebsten erstmal alles verstehen. Ob ich es dann gut finde, ist ja die zweite Frage. Solche Gedanken kommen einem, wenn man nächtelang ins Weltall schaut. Da werden viele Dinge plötzlich sehr klein und relativieren sich. Besonders ewige Wahrheiten und Vorstellungen von der eigenen Bedeutung.
Man versteht es sicher nicht so richtig, aber bis dahin ist es immerhin hübsch anzusehen, und das ist mehr, als die Mehrzahl der Künstler für sich in Anspruch nehmen kann. Von ihren Werken gar nicht zu reden.

Du hast mich übrigens falsch verstanden: Die Künstler, die ich gegebenenfalls beneide oder bedaure, sind mitnichten die Gleichen oder gar Dieselben. Es gibt wenige, die meiner Meinung nach viel zu viel und wahrscheinlich zu viele, die zu wenig Beachtung bekommen.

Ist der Künstler also eine Art höheres Wesen, dessen Bewusstsein sich in Sphären bewegt, in die die tumbe Masse niemals gelangen kann? Es sei denn, als Bewunderer oder noch besser  als Käufer – oder, wie sagt man in der Welt der Kunst? Als SAMMLER. Ist es also völlig unnötig, sich über Künstler und ihre Befindlichkeit Gedanken zu machen, zum Guten oder Schlechten, weil es sie eh nicht interessiert, was andere über sie denken? Weil eh nur ihre Meinung zählt? Weil in ihrem Universum grad Platz für ihr Ego ist und sonst nichts?
Soll ich das so verstehen? Das kann ich mir nicht vorstellen. So eingebildet bist du nicht. Aber auf jeden Fall speziell, denn ich denke, dass es kaum Menschen gibt, die so sehr von der Meinung anderer abhängig sind, wie Künstler. Ein Künstler, der nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient oder die er seiner Meinung nach verdient, ist doch eine tragische Figur! So einer wird irgendwann unleidlich oder zur Nervensäge, die ständig andere von ihrem Genie überzeugen muss. Das kann dir ja nicht passieren.

Diese deodorierten Nächte, wie ich sie nennen würde...
Alles klebt. Lüften geht nicht, denn alles steht. Vielleicht ist das gut so, weil die Luft nach irgendwas riecht, das aus dem Boden gekrochen kommt oder aus hunderttausend Duschkabinen. Man braucht nicht zu schwitzen, weil man bei jeder Bewegung ausreichend Dunst einfängt, um nass zu werden.
Nachts sehen die Wolken aus wie Schaum auf dem Industriekanal.
So schmeckt der Sommer.
Da freut man sich, wenn man nachts gasartige Anomalien kartographieren kann.
Mein Hirn fühlte sich am Tag ähnlich an.

Ach ja: Erklär du mir objektiv, was Kunst ist! Dann reden wir übers Universum...

Dein Robert

Ahoi, Matrose,
der du Nacht für Nacht in deinem Sternenausguck hängst, und durch phallusförmige Geräte gasartige Anomalien bestaunst!
Ich stimme dir zu; angesichts der Unendlichkeit des Universums sind unsere täglichen, kläglichen Gedanken natürlich trivial. Die Weiten des Weltalls machen sich auch keinen Kopf um die histrionischen Befindlichkeiten von gewissen persönlichkeitsgestörten Künstlern, geschweige denn über die Kunst an sich. Kunst und Bildung sind Luxusgüter, an denen immer zuerst gespart wird.
Womöglich lachst du dir nach dem herausfordernden Ende deines letzten Briefes jetzt ins Fäustchen und mutmaßt, ich würde dir antworten:
„Touché! Um dir zu erläutern, was Kunst ist, würde ein Brief nicht ausreichen. Vielleicht hundert Briefe, vielleicht auch tausend. Und selbst dann wäre ich mir nicht sicher, ob ich es wirklich erklären könnte.“
Doch mitnichten, mein Freund, denn ich bin jederzeit Dame über die Situation und um keine Antwort verlegen.
Kunst ist per definitionem (und laut meines dtv-Lexikons, Band 11, Kri–Mace) >>die gestaltende Tätigkeit des schöpferischen Menschengeistes in Architektur, Plastik, Malerei, Grafik, Kunsthandwerk (bildende Künste), in Musik, Dichtung, Theater, Tanz; oft als Gegensatz zur Natur, dem Selbstgewachsenen, und zum Handwerk, dem technisch Nachschaffenden.<< Und weiter heißt es: >> Das Kunstschaffen entspringt einem Urtrieb (Gestaltungs-, Spiel- und Nachahmungstrieb). In der Frühzeit, auch noch in den Hochkulturen, stand die Kunst lange in engster Beziehung zu Glaube und Kult; (…) Die zunehmende Lockerung der religiösen Bindungen zeitigte die Ablösung der Kunst von der Religion und ihre Verselbständigung unter rein ästhetischen Antrieben. (…) Für das Verständnis und die Deutung eines Zeitalters ist die Kunst aufschlussreich, da sein Gestaltungswille in ihr ununterbrochen zum Ausdruck kommt und geistige Wandlungen sich in der Kunst oft am frühesten ankündigen.<<
(Drei Absätze darunter wird übrigens erwähnt, worum es sich bei einem Kunstdarm handelt: >>Wursthülle aus Cellophan (…)<< Auch nicht uninteressant!)
Die nächste Frage ist: Wann ist Kunst gut? Beziehungsweise wertvoll. Das ist eigentlich viel entscheidender, aber auch komplizierter zu klären. Ein Anhaltspunkt ist dieser: Je mehr man sich in eine Thematik vertieft, sprich: sie studiert, und das nicht nur an der Kunsthochschule (>>Hochschule zur Ausbildung von Künstlern<<, dtv-Lexikon, Seite 52, eben jener Band Kri–Mace), desto mehr Wissen und Einsicht gewinnt man über sie. Es ist unumgänglich, Techniken zu erlernen, Erfahrungen zu sammeln und Vergleiche anzustellen. Zwar handelt es sich nicht um eine konkrete Wissenschaft – der alte Streit zwischen der Natur- und Geisteswissenschaft kommt hier wieder auf den Tisch -, aber die Diskussion sollte nun wirklich jeden langweilen, der 20 Semester an der Uni gehockt hat, um sich die Sülze anzuhören, doch auch Kunst ist in gewisser Weise mess-, wenn auch nicht statistisch und empirisch wissenschaftlich zufriedenstellend erfassbar. Und Letzteres soll sie auch gar nicht sein, da Statistiken und damit Zahlen dem Wesen der Kunst konträr gegenüberstehen, ja, kontraindiziert sind. „Erfühlbar“ wäre ein besseres Wort, oder vielleicht „erfahrbar“.
„Kunst ist das, was der Künstler tut“, heißt es ja manchmal, doch dieser Satz wirft im Grunde mehr Fragen auf, als er beantwortet, denn WER ist denn ein Künstler? Der, der es an einer Kunsthochschule studiert hat, der beflissene Autodidakt, die Hausfrau, die nach Abwechslung lechzt und einen Malkurs besucht? Derjenige, der sich selbst so nennt, oder der, der in der Künstlersozialkasse versichert ist? Für die Künstlersozialkasse und das Finanzamt ist man nur dann ein anerkannter steuerzahlungspflichtiger Künstler, wenn man soundsoviel mit dem Verkauf seiner Machwerke verdient. Also geht es doch nur wieder um Geld? Zumindest von Amts wegen, ja. Alles andere würde nämlich als „Liebhaberei“ bezeichnet, obwohl auch das eine Kunst sein kann. Der Liebhaber zeichnet sich ja nicht nur dadurch als solcher aus, dass er etwas lieb hat, sondern er verfügt oft auch über eine großartige Kunstfertigkeit im Umgang mit den Dingen, Damen, Herren, Geschlechtsorganen…
Himmel, ich komme völlig vom Thema ab. Aber ich behalte meinen roten Faden im Auge, keine Angst. Der Künstler ist meines Erachtens ein Mensch, der gar nicht anders kann, als Dinge zu kreieren. Er steht quasi unter einem Schaffenszwang, einem beständigen Drang, der ihn treibt, Dinge zu tun, die andere Menschen für völlig überflüssig halten. Trotzdem hängen diese anderen Menschen sich gern auch mal ein Bild an die Wand. Wenn es zum Sofa passt. Doch wenn es passend zum Sofa oder zur Wandfarbe sein soll, ist der „echte“ Künstler erbost, denn er schafft nicht für Dekorationszwecke, sondern um sich selbst zu verwirklichen, um sich in eine eigene Welt zu flüchten, um sich zu beweisen, um etwas Neues zu erfinden, womöglich auch, um eine Message rüberzubringen, die die Normalsterblichen erst Jahre später verstehen.
Künstler sind oft gequälte Seelen, mit einem „Künstlercharakter“ und einer „Künstlerseele“, auch diese beiden Begriffe kann ich dir bei Gelegenheit nahe bringen, falls dich mein Geschwätz nicht vollends ermüdet hat.
Kommen wir zu meiner Äußerung, dass ich nicht mehr alles verstehen will.
Vielleicht, nein, mit Sicherheit! sind meine Ansprüche, die ich ans Leben stelle, zu hoch. Man kann nicht alles verstehen, und man muss nicht alles verstehen, und ich WILL nicht alles verstehen, das ist es, was ich meinte. Dies sei lediglich als Prolog anzusehen, kommen wir nun zur Erläuterung:
Zwar bin ich ein Mensch, der gerne immer wieder Neues lernt, der Dingen auf den Grund geht, aber nur Dingen, die mich interessieren (Kunst, Literatur, Sprachen, Medizin, Sex und Geld, um nur einige Beispiele zu nennen)!!! Ergo möchte ich nicht wirklich wissen, warum erwachsene Leute Turniere in Mittelalter-Rollenspielen ausfechten als wären sie Kleinkinder, die Räuber und Gendarm spielen. Ich bitte dich! Erwachsene Männer. Die sich Felle umhängen und Gummiäxte schwingen! Ich will nicht verstehen, was in deren Köpfen vorgeht, ich weigere mich, verstehen zu wollen, was Dummköpfe treibt, obwohl es psychologisch betrachtet mitunter interessant ist, sich mit Trotteln zu befassen, doch das wäre nicht weniger blöd als ein blödes Hobby zu haben. Es gibt Typen, die schieben alles auf eine verkorkste Kindheit, auf etwas, was so ziemlich jeder von uns gehabt hat, selbst wenn manche keine Ahnung davon haben, dass es so war. Es gibt Menschen, die haben in ihrer Jugend so oft gehört, dass sie nichts taugen, dass sie nun, vermeintlich erwachsen, jedem, der es nicht hören will, erklären, wie toll sie sind. In der klinischen Psychologie nennt man so einen eine „histrionisch-narzisstisch gestörte Persönlichkeit“, ich persönlich nenne es einen Angeber, der alle Leute mit seinen Tiraden nervt bis zum Geht-nicht-mehr, und der nur dadurch, dass er zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Größenwahn schwankt, nicht fasziniert, sondern alle vor den Kopf stößt, so dass er am Ende, nichts ahnend, wie das alles gekommen ist, allein da sitzt und immer mehr verkommt zu der Ratte, die er in Wahrheit ist.
Ich kenne einige Künstlerkollegen, männlich, die darauf bestehen, „RICHTIGE Künstler“ zu sein – im Gegensatz zu wem? Zu mir?, frage ich erbost und recke die Faust drohend in ihre Richtung. Wieso muss sich frau immerzu beweisen, um ernst genommen zu werden?
In Dänemark und Schweden lernen schon die Schulkinder, dass keiner besser ist als ein anderer, alle Menschen sind Menschen, einer blöd, einer schlau, aber nicht besser, wenn du verstehst, was ich meine, und ich hoffe ehrlich, wir reden nicht wieder aneinander vorbei. Ich glaube, dass diejenigen Künstler, die immer so sehr betonen, wie wichtig und großartig sie sind, ihre Kindheit aufarbeiten wollen, indem sie Bestätigung suchen, die die Eltern ihnen versagten. Die bekamen zu hören, dass ein Künstlerdasein keine Zukunft habe und man einen „anständigen“ Beruf haben müsse, um etwas zu „taugen“, denn der Künstler ist – wie du schon sagtest – bisweilen nichts weiter als eine tragische Figur, die jahrelang Kitt aus den Fensterrahmen frisst, wenn er erfolglos bleibt.
Aufgrund des dermaßen verinnerlichten Selbstzweifels kann dieser Typ Mensch nicht anders, als sich selbst immer wieder, wie eine Schallplatte mit Sprung, einzureden, wie genial und großartig er ist. Lästiger Weise tut er dies laut, so dass man als Außenstehender nicht umhin kommt, diese Demonstration einer zerrissenen Persönlichkeit mit anzusehen und anzuhören, was nervt, aufhält und nochmals nervt. Weil es einem die Konzentration abzieht von dem, was man eigentlich vor Augen hat – das eigene Ziel, das Leben als solches, den Spaß.
Es ist eine Erklärung, dass jemand zu dem wird, der er ist, aber lange keine Entschuldigung, anderen auf den Sack zu gehen. Denn jemand Mitte Vierzig ist kein Kind mehr, sondern ein Mensch in den sogenannten „besten Jahren“, reif also, einer, der es wissen, der es gelernt haben müsste, sich selbst und seine Schwächen zu reflektieren, wobei ich nichts gegen Schwächen habe, gerade Schwächen machen einen Menschen zu einem Menschen, zu einer liebenswerten Kreatur, aber alles muss im Rahmen bleiben und mich persönlich nicht nerven. Wenn man etwas auch nicht ändern kann, kann man doch wenigstens versuchen, es zu reflektieren.
Ich sage immer: „Tu, was du willst, solange es anderen nicht schadet“, frei nach Crowley, den ich weder schätze noch verachte, der einfach ein paar gute Ideen in den RAUM geschmissen hat, die die ZEIT überdauert haben. Allerdings hat er auch jede Menge Mist verzapft, vielleicht sogar schlimmeres.
Ich weigere mich zu verstehen, was ich nicht verstehen will, ich tu, was ich will, ich folge meinen eigenen Regeln, ja, ich MACHE meine eigenen Regeln, wie eine Fürstin, die ihr Reich regiert. Meine eigene Göttin im eigenen Himmel. Meine eigene Dame. Ich schade niemandem, es sei denn, er schadet mir, und darauf warte ich nur, komme doch, was will, ich bin für alle Eventualitäten gerüstet, aber bekloppte Männer bringen mich nicht mehr auf die Palme.
Obwohl: Jedem sein Steckenpferd. Erwachsene Männer spielen schließlich auch mit Miniatureisenbahnen im Keller, während die Ehefrau froh ist, dass sie mal ein paar Stunden Ruhe vor dem alten Drecksack hat, der sich im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre unglücklicherweise mehr und mehr zu einem Kretin entwickelt hat, was nicht abzusehen war bei der Hochzeit, weil man derzeit noch verliebt war und alles rosarot ausmalte.
Rosa ist übrigens meine Lieblingsfarbe, habe ich das schon erwähnt? Du wirst es auf meinen Bildern sehen, und die Galeristen lieben meine Bilder, gerade gestern bin ich einen ganzen Schwung davon losgeworden, eine wahre Freude, doch wie immer im Leben liegen das Gute und das Ungute nah bei einander. Scheinbar achtet der Kosmos, oder wer auch immer, stets auf das Gleichgewicht der Dinge. Denn – sei es nun zur Strafe oder als ausgleichende Gerechtigkeit oder nur Pech – es ging mal wieder ein wichtiges Haushaltsgerät kaputt, eines, auf das man nicht mehr verzichten möchte beziehungsweise kann.
Der zu Hilfe gerufene Handwerker, der lange auf sich warten ließ und völlig genervt schien, dass er schon wieder etwas reparieren sollte, diagnostizierte lapidar: „Verschleiß. Alles geht irgendwann kaputt.“ Nun, diesen Satz kann man auf vieles im Leben anwenden – wenn man Philosoph ist, und nicht Monteur.
Wie mein Vater immer sagt: „Es geht immer weiter – bis es nicht mehr weiter geht.“
In diesem Sinne hoffe ich darauf, dass unser Briefwechsel weitergeht.
Es grüßt dich herzlich
deine Vida
P.S.: Quid pro quo:  Nun möchte ich aber auch etwas über ZEIT und RAUM erfahren!
***
Es vergeht eine ganze Zeit, bevor Robert antwortet. Vermutlich überlegt er, wie er Vida das Universum erklären soll. Oder er hat anderes zu tun. Wie dem auch sei, Vida macht sich nichts daraus und fährt erstmal weg, zum Malen in den Norden. Robert bekommt eine
POSTKARTE VON VIDA – und ein schlechtes Gewissen…
Kleine schwedische Landschaft, 18 x 24 cm, Öl auf Leinwand, KBOTHA 2012
Robert!
Viele Grüße aus Schweden!
Der mitgebrachte Rotwein (australischer Shiraz, Jahrgang 2006) neigt sich dummer Weise dem Ende. Das letzte Glas strecke ich daher mit >>BORISOV<<-Wodka aus dem Plastik-Flachmann von Penny…
pimp my wine sozusagen... Der Alkohol ist furchtbar teuer hier!
Dank des Borisuff, so hoffe ich, wird der Wein die gewünschte Wirkung haben (= Bettschwere). Wetter ist prächtig. Die Nacht ist lau, die Grillen zirpen, die Mücken schwärmen. Den Mond kann man von hier aus auch sehen.
Allerdings hab ich kein langes Rohr zum Begucken dabei. Und auch sonst keins, höhö. Der Himmel ist klar; und so DUNKEL, nicht wie in der Stadt!
Die Sterne scheinen zum Greifen nahe, manche sehen aus wie von Hand gemalt, wie aus dem Bilderbuch. Denkt an mich, wenn du nach oben schaust!
Hej, så länge – VIDA
***
Liebe Vida!
Was? Phallusförmige Geräte? Wo? Die muss ich sehen!
Ich kann sagen: Keines der Geräte, die ich benutze, ist phallusförmig. Ich weiß es, denn ich kann bei Bedarf vergleichen, und da besteht wirklich keinerlei Ähnlichkeit.
Aber es gibt ja Menschen, die alles, was mehr in die Länge denn in die Breite geht, als ein Phallussymbol betrachten. Hauptsächlich Frauen. Eigentlich nur Frauen... Das kann meiner Meinung nach nur zwei Ursachen haben: Sie haben entweder noch nie einen in natura gesehen oder sie WOLLEN unbedingt welche sehen, weil ihr Weltbild das verlangt. Das zweite halte ich für weitaus problematischer... Seltsam: Kein Mann würde auf die Idee kommen, bei einem Hochhaus oder auch nur einem stehenden Stein an sowas zu denken. Was ist mit Leuchttürmen? Bierdosen? Gemüse? Ich für meinen Teil gehe nicht durch die Welt und suche an allen Ecken nach Vaginal-Symbolen; das wär ja gruselig.

Du hast mich wieder mal durchschaut: „Daran wird sie knabbern müssen!“, dachte ich - und lachte irre. Muahaha. Als Künstlerin sollte sie wissen, was sie da eigentlich macht. Und wieso. Ich fühlte mich wie ein 12-Jähiger, der den Pastor fragt, wo Gott wohnt. Sehr originell. Ist vorher noch keiner drauf gekommen. Und dann hatte ich selbst zu knabbern.

Raum und Zeit. Ja. Hm… *kratz am Kopf*.
Sie haben mit der Kunst etwas gemein: Kaum einer begreift sie, noch weniger können sie erklären, und selbst dann hat man nicht das Gefühl, wirklich schlauer zu sein. Auf der anderen Seite könnte man ohne Kunst auskommen, ohne Raum und Zeit aber nicht. Man hat sich an sie gewöhnt, weil sie schon immer da waren, und denkt nicht groß darüber nach, aber stell dir vor, du gehst um die Ecke, und plötzlich ist kein Raum mehr da! Eine Erfahrung, die ich nur nachts aus fremden Häusern kenne.

Beliebte Fragen sind: „Was war vor dem Universum?“ und „Was ist da, wohin es sich ausdehnt?“ Die werden immer wieder von Leuten gestellt, die sich für ganz besonders schlau halten. Sind sie aber nicht. Weder die Leute, noch die Fragen, denn: siehe oben!
Mein Herr Vater stellt sie auch gerne, seit er in den Siebzigern ein paar Schwarten von von Ditfurth gelesen hat und sich für den Weltraumsachverständigen und Steller letzter Fragen hielt. Das wäre an sich nicht schlimm, aber 1. stellt er die Fragen seit 30 Jahren und 2. sind sie bereits beantwortet worden (mit „Kann man im Moment nicht wissen“ und „Kann man gar nicht wissen“). Sogar im Fernsehen! Aber meinst du, er guckt sich sowas an? Nee. Wahrscheinlich, weil er sich dann neue Fragen überlegen müsste.
Außerdem sind diese Bücher spätestens seit Hubble hoffnungslos überholt. Die alten Bilder sind eventuell künstlerisch wertvoll, sehen aber aus, als wären sie durch das Teleskop aus dem YPS-Heft gemacht worden. Dass das Sterne sind, weiß man nur, weil jemand nachts die Kamera nach oben gehalten hat. Heute gibt es an gleicher Stelle wilde Gebilde, in Farbe und 3D.
Ist das nun erstaunlich oder erschreckend? Noch bis ins 20. Jahrhundert dachte man, es gäbe nur eine Galaxie (unsere). Ein bisschen früher war es nur ein Sonnensystem usw. Und die Sterne waren Löcher im Tischtuch der Götter... Und immer war man sich ganz sicher! Vielleicht gibt es doch andere Universen, aber die werden schwer zu erreichen sein. Da hilft auch das Teleskop nicht, mit dem man einen Mann auf dem Mond sehen kann (wenn einer da steht).
Siehst du? Du fühlst dich nicht schlauer.
Mir kam aber neulich eine Erkenntnis. Natürlich nicht, als ich es erwartete und natürlich wieder viel zu spät. Ich war mit Micky auf einer Living-Death-Party. Da geht es immer lustig zu: Angriff der Latex-Schlampen meeting Corpe Bride. Tote Schweine tanzen im Minirock. Röcke können wirklich immer noch kürzer sein. Männer, die wie Heizungsbürsten aussehen. Verwachsene. Zwerge.
Ich mags. Es war auch wieder ein Pärchen mit Halsband und Leine da.Du meine Güte.
Saßen wir also um 3 Uhr am Tresen und betrachteten das Defilee, als ich mich fragte, warum immer wieder die gleichen Leute vorbeikamen. Immer wieder der Kerl mit der Buchhalterbrille und den Plateaustiefeln. Immer wieder die Cleopatra-Twins. Und die Frau mit der großen Nase.
Das grenzte schon an Hospitalismus! Dann fiel es mir ein: Diese Leute rennen im Kreis, weil sie denken, sie würden irgendwas versäumen, wenn sie einfach nach Hause gingen! Das hab ich doch früher auch gemacht! Ich dachte auch, alle anderen wären cool und hätten irre viel Spaß. Heute weiß ich, dass es egal ist, wie oft man um die Tanzfläche tigert: Um 3 Uhr morgens geschieht garantiert nichts mehr. Man findet nicht die Frau fürs Leben, und der Fürst der Finsternis kommt auch nicht mehr vorbei. Geh ins Bett! Lies ein Buch!
Ach ja: Wie sagt man „Ich finde, du solltest unbedingt die Netzstrümpfe anziehen“ durch die Blume?
Mein alter Herr schleppt auch regelmäßig seltsame Dinge nach Hause.
Das machen ja viele aus seiner Generation. Falls die schlechten Zeiten wieder kommen oder wenigstens die Teuerung. An Metallwaren aller Art kommt er nicht vorbei, obwohl in der Rumpelkammer bereits die Tagesproduktion der Schraubenfabrik liegt und er meines Wissens vor 20 Jahren den letzten Nagel eingeschlagen hat. Aber man kann ja nicht wissen... Er kauft auch gerne seltsame Sachen ein, zum Beispiel 6 Gläser Senf, weil es grad so günstig ist (Das klingt nach Loriot, ist aber nicht gelogen!). Wenn das große Senfembargo kommt, kann er sie sicher gut eintauschen. Zum Beispiel gegen Nägel.
Aber manchmal findet er auch nützliche Dinge: Eine ganze Melone. Einen drei Kilo schweren Rotkohl vor dem Friedhofstor. Oder immer wieder Avocados. Die bekomme ich dann, weil er da nichts mit anfangen kann. Ich aber leider auch nicht. Im Internet fand ich sage und schreibe 314 Rezepte! 314 Wege, eine Avocado zu zerstampfen. Welcher ist nun der richtige auf dem Weg zur Erleuchtung? Too much information.
Sogar Avocadolikör war im Angebot. Likör? Aus Gemüse? Hä? Man macht doch auch keinen Erbsen-und-Wurzel-Likör! Hoffe ich...
Das einzig wahre Rezept war natürlich nicht da: Man zermatscht das Teil, mischt es sorgfältig mit Salz, Pfeffer und Zitronensaft und schmiert sich völlig damit ein. Das Rezept erfordert allerdings jemanden, der das Zeug dann ableckt. Dafür muss unbedingt Sorge getragen werden! Es soll ja nicht der Hund vom Nachbarn sein. Also bei mir sollte es nicht der Hund sein. Andere mögen da andere Vorstellungen haben...

Wusstest du, dass es ein Kraut namens Schokoladen-Minze gibt? Oh ja. Ich weiß nicht, ob das sein offizieller Name ist (vermutlich nicht), aber wenn man daran riecht, hat man sofort ein After Eight im Sinn. Und dazu muss man nicht mal die Augen zumachen. Es gibt aber Probleme mit der Verwendung. Salat kann man nicht draus machen...

Nach fest kommt ab. Kürzer kann man es nicht sagen.

Dein Robert Leichtfuß
***
Lieber Robert,
wir beide sind zu alt, um etwas durch die Blume zu sagen oder gar um den heißen Brei herum zu reden, wir haben nämlich nicht alle Zeit der Welt und genug Erfahrung mit Körben. Was soll es auch? Was man am Ende bereut, sind nur die Dinge, die man NICHT getan hat. Ich bin für offen und ehrlich, direkt heraus damit, freundlich natürlich, nicht sabbernd.
„Ich finde, du solltest unbedingt die Netzstrümpfe anziehen“ ist daher keine unpassende Ansage, aber da wir Frauen Komplimente sehr schätzen, könntest du noch ein „Du würdest hinreißend aussehen, noch bezaubernder als sowieso schon“ hinzufügen.
Du denkst, das ist dick aufgetragen? Mitnichten, mein Freund, wir Damen lieben sowas, aber wir durchschauen auch, wenn es eine absolute Lüge ist. Gegen Charme und Übertreibung hat keine Frau etwas, auch wenn sie nach solcherlei Seelenbalsamierung kichert und kokett „Aber nicht doch!“ schreit. Irgendwie wie vor hundert Jahren. Nur dass Netzstrümpfe da noch als unschicklich galten. Mal ganz abgesehen von Männern, die von ihren Meisterinnen an der Leine herum geführt werden!!!
Was phallusförmige Bauten und Gegenstände jeder Art angeht, so möchte ich dir, mit leicht erhobenem Zeigefinger milde widersprechen, denn MEINER Erfahrung nach haben es gerade die Männer mit Phallussymbolen. Viele Männer lieben Leuchttürme auf Gemälden und in Natura oder Duckdalben im Hafen (klingt albern, kommt aber gut an). Das ganze gipfelt ja in der klischeehaften Penisverlängerung Porsche. Obwohl auch Frauen gerne Porsche fahren. Ich hätte nichts dagegen, einen mein Eigen zu nennen. Auch der Mercedes SKL ist ein feines Auto, aber ich las, das sei ein typischer Wagen für die reife Dame ab 65. Außerdem passen keine großen Bilder hinein. Im Grunde bräuchte ich einen Kleintransporter mit genügend PS, mit dem ich durch halb Europa toure, um meine Kunst zu verkaufen. Wie eine Vertreterin, was ich dann ja auch wäre.
Vaginal-Symbole. Was fällt mir da ein? Selbstverständlich als erstes die Rose, einige andere Blumen auch, und Muscheln. Naja, ich will das Thema nicht vertiefen. Oder Handtaschen. Manchmal stecke ich eine Taschenlampe in meine Handtasche… Welch eine Symbolik! Oder vielleicht auch nur Spinnerei („Arschkram“, würde mein Vater sagen, und weiter die Tagesschau vom Sofa anmeckern.)
Likör. Ja, das wird dich interessieren: Ich lernte gerade etwas von einer befreundeten Malerkollegin über das Geheimnis der Likörherstellung! Hurra! Das war wirklich sehr bereichernd.
Man kann in der Tat aus so ziemlich allem Likör herstellen; die Hauptzutat ist aber immer Wodka (siehe „BorisSuff“), Doppelkorn geht auch, aber Wodka ist irgendwie reiner, das reinste Lebenselixier sozusagen. Ich stimme dir zu, ich persönlich sehe auch nicht gern Gemüse in meinem Likör, aber interessant finde ich zum Beispiel Ingwer. Oder Obst jeder Art. Man schmeiße alles grob gehackt in ein großes Glasgefäß, streue reichlich Zucker drüber, fülle mit Wodka auf, decke es mit Folie ab und warte sechs bis neun Wochen. Zwischendurch immer mal wieder umrühren, danach abseihen durch ein Tuch oder Sieb und mit Hilfe eines Trichters in Flaschen abfüllen. Hält sich Jahrzehnte! Ich hab noch eine 1-Liter-Flasche Schwedenkräuter-Likör, selbst angesetzt, aus dem letzten Jahrtausend! Wird immer besser! Und wirkungsvoller. Die dazu benötigten Kräuter pflückte ich nicht, wie du vielleicht denkst, nach Hexenmanier in einer Vollmondnacht selbst, sondern bestellte sie ganz banal in einer Apotheke. Der Erfinder der Mixtur, der nicht Herr Schwedenkraut hieß, sondern irgendwie anders (ich las mal was drüber, aber hab seinen Namen vergessen), soll angeblich aufgrund der täglichen Einnahme des Schwedenbitters 105 Jahre alt geworden sein – dann fiel er vom Pferd und starb.
Andere Quellen schreiben die Erfindung dieser speziellen Kräutermischung dem schwedischen Arzt Urban Hjärne (1641 – 1724) zu, der immerhin Leibarzt des damaligen schwedischen Königs war. Besagter Leibarzt hat auch ein Elixier mit dem wunderbaren Namen >>Elixier amarum Hjaerneri (ad longam vitam)<< erfunden, die im 18. Jahrhundert im Deutschen Reich als Kronessenz verkauft wurde und lebensverlängernd wirken sollte – ein angebliches Wundermittel unter vielen anderen in der Geschichte. Bekannt wurden die besagten Schwedenkräuter, die ebenfalls gegen jedes Übel helfen sollten (außer dem, vom Pferd zu fallen) übrigens durch Maria Treben.
Wie dem auch sei; andere Leute gehen 90 Jahre lang ins Maxim, qualmen dort die Bude voll und werden ebenfalls 105. Man steckt nicht drin.
Was aber auch im Likör stecken kann, erzählte die Putzfrau meiner Mutter, nachdem sie von einer Asienreise zurück kehrte: Da hatte man ihr eine Flasche Schnaps vor die Nase gestellt, in der schwamm ein krapplackrot leuchtender Vogel in der Größe einer Amsel! Tot natürlich. Diese Asiaten machen ja auch aus Schlangen Likör – und vieles mehr! Man möchte das gar nicht alles wissen! Oder denk an den armen Wurm im Tequila!
Die Sache mit dem Ablecken gefällt mir! Da hätte ich nichts gegen, dass mir einer – einer, der mir gefällt natürlich – den Avocado-Matsch vom Körper schleckt. „Man soll das Grün werden, um es zu malen“, sagte mein Professor für freie Malerei immer. Avocado-GRÜN. Das hatte er bestimmt nicht im Sinn. In diesem Fall kann man das Grün einfach essen und hinterher guten Sex haben. Gesund ist das alles zusammen ganz bestimmt. Und macht Spaß! Viele Dinge, die Spaß machen, sind ja leider ungesund oder machen dick. Ich kann ein Lied davon singen…
Okay, ich bin nicht wirklich schlauer, was Raum und Zeit angeht – und ich bin mir bis heute noch nicht sicher, ob die Amis wirklich auf dem Mond waren, oder ob das alles nur ein toller PR-Gag war (siehe „Wag the Dog“!). Es gibt wohl Dinge, die wir (noch) nicht erklären können. Trotzdem frage ich nochmal explizit: Wieso gibt es Zeit? Und warum? Um eine Zivilisation am Laufen zu halten? Wie ist das entstanden? Zeit ist nicht nur relativ, sondern auch scheiße: Immer, wenn es am Schönsten ist, vergeht sie wie im Fluge, und wenn man will, dass sie vergeht, tut sie es nicht.
Eine schöne Zeit wünscht dir
deine Vida
P.S.: Ich bin NICHT blöd, nur weil ich die Frage stelle, wo das Weltall endet und was da ist!
P.P.S.: Vielleicht will ich doch immer noch zu viel wissen. Das nervt. Kann man nicht dumm sein? Einfach nicht mehr denken? Leere im Hirn haben, wie eine große weiße Halle, in der nichts steht? Das würde doch Ruhe bedeuten. Ruhe und Frieden. Meine beiden Lieblingsmantren. Ruhe und Frieden. Oooommm. Hm. Hört sich ein bisschen zu sehr nach „Ruhe IN Frieden“ an, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Ob das bedenklich ist?
***
Meine liebe Vida!

Die Amis waren auf dem Mond! Eine indische Sonde hat die Spuren des Autos gefilmt! Jahaha! Aber die hängen ja auch mit in der Verschwörung drin... Das mal zum Anfang.

Ich sehe schon, ich schlage aus der Art. Trotz des erhobenen, mithin phallusförmigen, Zeigefingers kann ich das nicht nachvollziehen: Ein Leuchtturm sieht aus, wie er aussieht, weil seine Aufgabe das erfordert (das wiederum hat er doch mit dem Phallus gemein), nämlich mit möglichst wenig Aufwand möglichst hoch zu sein. Und er ist auch kein Zeichen für Macht, sondern für Sicherheit und Schutz. Denke ich. Früher stellte man Kerzen in die Fenster, dann Türme an die Küste und vielleicht eines Tages mal irgendwas Leuchtendes an den Rand des Sonnensystems. Wer weiß. Vielleicht mögen Männer sie, weil sie gerne harte Seebären wären?
Ein Hochhaus ist in erster Linie hoch, weil kein Platz da ist, aber trotzdem alle da hinwollen. Nebenbei gesagt gibt es grässliche Hochhäuser, von denen ich mich keinesfalls ganz oder auch nur in Teilen symbolisieren lassen möchte. Duckdalben treiben mir in dem Zusammenhang den Psychiaterblick ins Gesicht: „Soso, sie denken dabei also an ihren... Sehr interessant!“
Ja, natürlich ist bei Hochhäusern auch Angabe dabei. Denk an den Supertower in Abu Dubai. Formschön und zweckfrei, ein echtes Männerspielzeug, ein echtes „Seht meine Werke und erzittert!“. Trotzdem bin ich sicher, dass der Bauherr keine Potenzprobleme hat.

Gegen den Komplex helfen auch Porsche und Rolex. Andererseits: Wenn das nicht funktionieren würde, würde es keiner machen. Hast du Kohle, hast du Auto, hast du Weiber. Der Bohlensche Dreisatz. Und der sollte es wissen!
Übrigens sind Porsches tatsächlich coole Autos! Ein Freund hatte mal einen, und ich muss sagen, ich war schwer beeindruckt. Von dem, was Männer da eben so beeindruckt. Motor und so weiter. Der Verkehr teilt sich vor einem. Das haben andere Autos nicht. Weniger beeindruckt war ich von Zierleisten, die nach drei Monaten im Fußraum lagen. Bei 100.000 DM (die DER Auto damals gekostet hat) eigentlich unmöglich. Er hatte ihn aber nicht lange, dem Hörensagen nach deshalb, weil die Werkstattrechnungen das Beeindruckendste waren. Ich wollte mal einen MX-5 haben. Das hat mir später viel zu denken gegeben.

Blumen? „Blumen, Blumen, 20 Blumen!“, wie es im Vorspann zu „Herr Rossi sucht das Glück“  heißt. Komisch, das ist bisher alles völlig an mir vorbeigegangen. Wahrscheinlich war das gut so. Wer denkt sich sowas aus? Naja, vielleicht gibt es im Universum nur soundso viel verschiedene Formen, und manchmal wiederholen sie sich halt?
Neulich war ich in einem Riesen-Rosengarten und auf der Bundesblümchenschau (nicht freiwillig), und wenn ich das alles da schon gewusst hätte... Gar nicht auszudenken. Und Handtaschen? Naja. Auch etwas, in dem sich Mann nur schlecht zurechtfindet.

Wunderbare Likörgeschichten! Ich glaub, fünf Minuten nach dem Sex wurde der Alkohol erfunden. Oder fünf Minuten vorher? Und gleich danach das Geld, aber das ist eine andere Geschichte.
Dein Rezept klingt schwer nach dem, was in den Siebzigern massenweise als Rumtopf in deutschen Kellern rum stand. Daher sicher der Name Rumtopf! Huach, Kalauer. Ich weiß.
Was ich auch noch weiß, ist, dass es sich um einen mephitischen Ansatz von Früchten, Zucker und Stroh-Rum handelte. Und zwar dem richtigen Stroh, der heute nur noch selten zu finden ist, weil sich seine Eigenschaften nur unwesentlich von Normalbenzin unterscheiden. Wahrscheinlich würde man ein Auto damit wirklich bis zur nächsten Tanke bekommen. Ja, auch bei uns stand so ein Ding, aber ich kann mich nicht erinnern, dass jemals etwas daraus entnommen wurde. Nein, auch nicht von mir, denn damals hatte ich noch einen Heidenrespekt vor Schnaps. So wie heute wieder...
Na, und Vögel in der Flasche? Der Asiate hatte und hat offenbar eigenartige Vorstellungen davon, was Dinge ausrichten können. Ein roter (wichtig!) Vogel, eine Schlange oder irgendein seltenes (auch wichtig!) Reptil. Abgesehen davon, dass sie alle mögliche Tiere abknallen und pulverisieren, um ihrer Potenz auf die Sprünge zu helfen. Asien muss ein potenzmäßiges Notstandsgebiet sein! Und das schon seit 1.000 Jahren!
Wie wurde das hierzulande geregelt? Ganz einfach: Schluck aus dem Rumtopf, und schon ging es. Oder Schwedenkräuter. Ein Schluck früh am Tag erzeugt schon per se eine positive Einstellung zum Leben, aber statistisch ist das natürlich nicht aussagekräftig: Man hätte einen zweiten Probanten gebraucht und sehen müssen, ob der auch ohne 105 wird.(Nun gut, im Grunde haben wir den ja, wie du ganz richtig darlegst…)
Das spricht gegen den Leibarzt, denn der wurde nur 83. Der Name
>>Elixier amarum<< zeigt allerdings in eine bestimmte Richtung, und wenn es denn wirkte, können wir annehmen, dass seine 83 Jahre nicht ohne Spaß waren.
Es ist übrigens eine interessante Vorstellung, wie du bei Vollmond nackt um den Kräutertopf tanzt. Und was jetzt? Nicht nackt? Na, man wird pragmatischer. Aber zählt das Ganze dann noch?

Apropos Spaß: Manche Leute mögen Wäscheklammern. Neben gewissen anderen Sachen, die ich weder glauben, noch wiederholen möchte. Wiederholen im Sinne von wiedergeben und betrachten, nicht im Sinne einer Wiederholung von Erlebtem! Nägel und Salzwasser wurden da erwähnt...aarrggh. Doch, so muss ich bekennen, das mit den Wäscheklammern wollte ich doch mal wissen und habe es ausprobiert. Nicht mit 20 Stück, wie im Ratgeber für eben diese Dinge angegeben (so viel hab ich gar nicht), sondern mit zweien, die gerade in Reichweite waren, und was soll ich sagen: Die Sensation wollte und wollte sich nicht einstellen. Wieder was gelernt.

Und: Bei näherer Betrachtung sieht auch die Avocado-Szenerie nicht mehr so sexy aus. Erstmal braucht man eine Riesenmenge Schmiere und Zeit, um das vorzubereiten, und dann wahrscheinlich genauso viel Aufwand, um es wieder wegzukriegen. Auch der gutwilligste Mann wird da irgendwann abwinken.
Das gehört in dieselbe Kategorie wie das romantische Schlafzimmer, in dem eine Million Teelichter brennen. Wie lange hat das Anzünden gebraucht, wie heiß muss es in der Bude sein, und kann man sich da überhaupt noch bewegen? Ich könnte es sicher nicht.
Gut, ich kann auch keine Komplimente machen. Und auch schlecht mit welchen umgehen: Wenn mir jemand sagen würde, ich sollte unbedingt die Netzstrümpfe anziehen, wüsste ich nicht, wie ich das einordnen soll. Kommt auch darauf an, wer es sagt: Der haarige Lederkerl? Oder eine Dame? Männer machen ja die unmöglichsten Dinge. Ich hörte mal, dass sich einer zur Belustigung einer Dame in einen schwarzen Body gezwängt hat, der sicher vier Nummern zu klein war. Das muss wie ein schlechter Schwulenwitz ausgesehen haben!
Würdelos. Dann lieber Nacktputzen.

Die letzte Frage wie immer zum Schluss: Zeit. Warum, woher und wohin?
Ich glaube, dass es keinen besonderen Grund gibt, warum es Zeit gibt. Wie die meisten Dinge im Universum (Raum, Galaxien etc.) existiert sie, weil es sich so ergeben hat. Irgendwann hört das Gezappel auf, und die Dinge schütteln sich zurecht. Kurz nach dem Erwachen seiner Intelligenz merkte der Mensch: „Mensch! Eben war ich da, jetzt bin ich hier, und gleich bin ich dort.“ Weil damals (und auch heute) die Bedeutung von „gleich“ aber zwischen „augenblicklich“ und „nie“ pendeln kann („Wann bringst du den Müll runter?“ Antwort: „GLEICH!“ oder „Wann räumst du dein Zimmer auf?“ – „GLEICH!“) erdachte er die UHR. Ursprünglich noch ortsgebunden und mehrere hundert Tonnen schwer, passte sie nach kurzer Zeit schon in einen Kirchturm.
Was wollte ich sagen? Ach ja: Zeit sagt im Grunde nur, dass Dinge nacheinander passieren. Dieses verursacht jenes. Wie man das misst oder benennt, Clicks, Centonen, Sekunden, ist subjektiv. Das muss jeder Planet für sich entscheiden.

Dein Freund
Robert
***
Lieber Robert,
deinen Psychiater-Blick möchte ich ja gern mal sehen! Stelle ich mir eindrucksvoll vor. Kritisch über den Rand der Brille hinweg, fragender Ausdruck, eine Spur wissendes Lächeln, nach dem Motto: „Sie sind zu bemitleiden!“
Mir ist oft aufgefallen, dass du Dinge recht schnell intuitiv begreifst und dir aus allerlei Handlungsfäden plus der nötigen Portion Logik schnell den Fortgang der Geschichte auszumalen imstande bist, was dich zu einem ausgezeichneten Hellseher macht; ganz ohne Spökenkiekerei. Man zähle eins und eins zusammen. Nun, dazu bedarf es aber sicher auch eines gewissen Intellekts, das kann nicht jeder Dummbatz, und selbstverständlich bist du eben keiner.
Wie fühlen sich die Komplimente an? Ist es dir peinlich, wirst du rot? Ein Kompliment sollte man immer als das auffassen, als das es gemeinhin gemeint ist: als etwas Schönes, Nettes. Jetzt hör ich dich aufkreischen: „Nett ist das schlimmste Prädikat von allen! Das Ende der Fahnenstange!" Aber ich finde nett richtig gut!
Man sollte ein Kompliment mit dem nötigen Selbstbewusstsein und mit Würde annehmen können, ohne so tolldreist zu sein, ein „Ja, ich weiß“ zu entgegen. Das kommt nicht so gut an wie ein herzliches „Dankeschön“. Dann kann man auch gleich ein Kompliment nachschieben, zum Beispiel mit der Einleitung: „Sie aber auch…“ oder ähnliches. Mit der Zeit wird alles ganz einfach, man muss Dinge nur oft genug wiederholen, dann läuft es wie geschmiert.
Merke folgende Regel: Frauen können niemals genug Komplimente kriegen! Auch wenn sie noch so sehr kreischen, erröten und kichern angesichts eines Kompliments, heißt das im Grunde nur: „Gib mir mehr davon!“ Irgendwie ist es nie genug.
Das „Nie genug“ wiederum bringt mich auf das Thema „Energie-Vampire“. Nicht, dass Frauen, die Komplimente mögen, welche wären; es geht mir an dieser Stelle vielmehr um Leute, die immer mehr wollen, als man ihnen bereit ist zu geben, für die kein Ratschlag, keine Krisenintervention, jemals reichen wird, denn sie wollen nur eines: dich nerven und fertig machen, um sich selbst besser zu fühlen.
Ich scheue mich ein wenig, diesen neumodischen New-Age-Ausdruck zu strapazieren, halte ich doch RICHTIGE Vampire für durchaus bewundernswerte Zeitgenossen. Naja, zugegeben, wenn mir einer auf der Straße begegnen würde, bekäme ich es wohl mit der Angst. Ich stelle mir vor, ich sitze im Auto und biege grad in meine Straße ein. Auf dem Gehweg steht eine finstere Gestalt im Rüschenhemd (so finster wie jemand im Rüschenhemd eben aussehen kann), und seine Augen glühen wie glühende Kohlen oder – unprosaischer – wie die roten Rücklichter meines Autos, dessen Motor ich vor Entsetzen abwürge.
Aber heutzutage gibt es ja so viele GUTE Vampire, das ist nicht mehr wie anno dunnemals, wo jeder spontan auftauchende Dämon naturgemäß eine Bedrohung darstellte – nein! Heute gibt es ja so unwahrscheinlich viele SEXY Vampire, siehe Spike von Buffy, Edward oder die Brüder des Black-Dagger-Ordens bei J.R. Ward, um nur einige zu nennen.
Aufgrund meiner zahllosen Recherchen zum Thema Vampirismus weiß ich, dass die Leute vor langer Zeit, lange vor Bram Stoker, glaubten, der Vampir würde nachts umgehen und ihnen nicht nur Blut, sondern vor allem Lebensenergie absaugen, was sie schwächte und krank machte, viel mehr als der Blutverlust. Später wurde dann das Blut gleichgesetzt mit Lebensenergie, obwohl ich denke, es lohnt sich, beides zu trennen, auch wenn das Blut eine starke Symbolik für Lebensenergie insgesamt in sich birgt.
Lange Rede, kurzer Sinn und weg von den coolen echten Vampir-Typen hin zu den modernen Energie-Saugern: den Borderlinern. So ein Borderliner kann ja, wenn es schlecht läuft, eine ganze Familie oder gar Kleinstadt in den Wahnsinn treiben ohne einmal Hand anzulegen, allein durch psychischen Terror. Das muss man sich mal vorstellen, welch eine Macht diesen bedauernswerten Geschöpfen inne wohnt. Welch eine passive Aggressivität!
Das Bild dazu ist „Der Schrei“ und die Farbe dazu natürlich Rot, Rot wie das Blut, das aus den Schnitten läuft, die man sich zufügt. Heutzutage wird diese Aktivität gern auch der Jugendbewegung „Emo“ zugeordnet, doch ich persönlich glaube, dass es sich in diesem Fall um MODE-Schnickschnack handelt, um den Versuch, sich ein cooles Image zu verschaffen, denn der ECHTE Borderliner („der echte Künstler“, hätte ich beinahe geschrieben, siehe oben) prahlt nicht mit seinen Schnitten, er verheimlicht sie. (So ähnlich wie der ECHTE Alkoholiker nicht mehr mit seinen Besäufnissen angibt, sondern seine Buddeln irgendwo hinten unten versteckt). Viele Borderliner verletzen sich überhaupt nicht selbst – sondern nur andere! Ich konnte mich des Öfteren selbst davon überzeugen, welch einen Schaden ein Borderliner anrichten kann, bevor ich die Flucht ergriff, um meine Haut zu retten.
Früher nannte man das ja übrigens nicht „Borderline-Persönlichkeitsstörung“, sondern „romantisch“. Zum Beispiel im Buch „Sturmhöhe“. Dieser Roman wimmelt von verrückten Charakteren, und das Ganze wurde dann zu einem leidenschaftlichen Liebesroman deklariert, obwohl man sich eher fragen sollte, wie viele Psychiater mit Psychiater-Blick (siehe oben) man bräuchte, um diese irrsinnige Gesellschaft einigermaßen auf Vordermann zu bringen. Die verstorbene Geliebte spukt im Haus des zu Lebzeiten als nicht gleichrangig erachteten Liebhabers, der nun auf Rache sinnt und immer brutaler und seniler wird, aber sich an dem Gespuke festhält, obwohl der Geist ihn zu Lebzeiten auf Grund von Klassenunterschieden verschmäht hat. ÄH – ich bin völlig vom Thema abgekommen…
Also Borderline. „Auf der Borderline ist es fein“, sagt sich so mancher und richtet sich gemütlich ein, um seine Mitmenschen in den Wahnsinn zu treiben und sich deren Seele einzuverleiben.
So just auch nicht näher Bekannte, die mir gefühlte eine Million Emails schrieb (und wahrscheinlich waren es TATSÄCHLICH eine Million Emails!), in denen sie mich um Rat bat und mir vorjammerte, wie schlecht es um ihre Beziehung zu ihrem Kerl im Allgemeinen und ihrer psychischen Gesundheit im Speziellen steht. Besorgt und mitgerissen von ihrer Pein, bemühte ich mich anfangs noch, ihr nach Kräften beizustehen („Ja, er liebt dich! Alles wird gut!“ und weitere Phrasen mehr), doch ihre, auf einem mickrigen Selbstwertgefühl beruhende, pathologische Eifersucht brachte das Fass schließlich zum Überlaufen, als sie ein Telefonat, dass er in aller Unschuld führte, da bin ich mir sicher, mit hysterischem Wutgeheule sprengte und ihren Verfolgungswahn immer weiter fütterte, bis ich es nicht mehr aushielt, immerzu das gleiche zu lesen und zu hören und zu antworten – und kapitulierte. Dann rief sie mich an. Ich nahm ab und hörte nur Schreien. Ich verstand kein Wort. Ich sagte „Wie bitte?“ und „Ich verstehe nichts“, bis ich meinte, ein vorwurfsvolles „Du hasst mich, du hilfst mir nicht!“ zu hören. Ich schrie zurück, das sei ja nun das Allerletzte und legte auf.
Ich glaube, sie leidet selbst am meisten. Aber das ist ja auch keine Entschuldigung dafür, anderen Leuten auf den Wecker zu gehen, oder?
Liebe Grüße von
Vida
***
Meine liebe Vida!

Dunkle Gestalten in Rüschenhemden. Soso. Sehr interessant...

Was bin ich froh, dass dieser Kelch an mir vorüber gegangen ist. Oder sollte ich sagen, dieses Fass? Ich habe nicht deine Erfahrung mit abweichender Psyche, wie du mit dieser Bekannten, aber das Wort „Drama“ ist mir durchaus vertraut, und ich brauche davon bestimmt kein künstlich befeuertes.
Heißt es nicht auch, einen Vampir muss man hereinbitten? Ins Haus? Ins Leben? Das passt auch für Borderliner. Ich bin nicht sicher, wen man schneller wieder los wird. Vermutlich den Typen mit dem Rüschenhemd.
Wie sind die Leute eigentlich auf solche Ideen gekommen? Naja, Schwindsucht und solche Sachen gab es schon immer, und dann waren es mangels besserer Erklärungen eben die bösen Geister. Die sind ja auch heute noch verantwortlich, wenn die Schokolade wieder alle ist. Oder der Sockenfresser! Es MUSS einen geben.

Der Vampir hat in jüngster Zeit gelitten. Weichgespült. Massentauglich. Pitt Brat war der letzte echte: souverän, nicht wirklich böse, aber auch nicht nett zu Kindern und kleinen Tieren.
„Der Kindergarten-Vampir“ kommt bestimmt auch bald. Das fehlt noch! Mit Miley Cyrus in der weiblichen Hauptrolle.

Mit dem Hellsehen ist es so eine Sache: Man sollte sich hüten, ungefragt oder sogar auf Vorrat Vorhersagen zu machen! Das habe ich schon ganz am Anfang auf die harte Tour gelernt:

Da gab es mal einen Freund/Bekannten/Angehörigen des Kommunikationskonglomerates, der von seiner Freundin derart mit Beschlag belegt wurde, dass es auffiel. Früher war er keiner Party aus dem Weg gegangen, aber Kiki hatte darauf keinen Bock (oder auf seine Freunde), und wenn Kiki keinen Bock hatte, hatte er auch keinen Bock zu haben und durfte stattdessen mit ihr kochen oder fernsehen. (Sie hieß natürlich nicht Kiki.)
Ja, ich weiß, was du jetzt denkst, aber das fand auch nicht statt, jedenfalls nicht in der Menge, wie er sich das vorstellte. Sie war verkrampft. Monatelang.
So schrieb ich also eine kleine launige Geschichte über einen Kerl, der von seiner Freundin immer mehr vereinnahmt wird und seine Freunde vergisst, bis sie ihn eines Tages über Nacht abschießt und nach Manchester zieht. Danach irrt er ziellos durch die Nächte, weil er keinen mehr kennt. Er ist raus.

Lektion: Wenn du nicht willst, dass jemand was liest, schreib es nicht auf!

Dummerweise wühlte er meinen Schreibtisch durch und bekam das Ding in die Hände. Vielleicht hätte ich dem Hauptdarsteller nicht den gleichen Anfangsbuchstaben geben sollen? Neugierig sein bringt oftmals Pein.
Er war sauer. Sie war noch viel saurer. Alle, die es lasen, waren sauer.
Ich war der Arsch.
Halt, nicht alle, die es lasen, waren sauer! Einige fanden es sehr komisch.
Man ahnt, worauf es hinausläuft: 6 Monate später verließ sie ihn über Nacht, um mit einem Engländer nach Birmingham zu ziehen und vier Kinder zu bekommen.
Das war mir schon selbst ein bisschen unheimlich! Es war zwar Birmingham und nicht Manchester, aber Maaanchester hatte ich nur gewählt, weil Maaanchester damals hip war wegen seiner Gitarrenbands (die heute keiner mehr kennt).
Aber immerhin! Mit meinem Status als Arsch konnte ich von da an sehr gut leben, auch weil manche Leute mich plötzlich ganz anders anguckten.
Von seiner Reaktion hab ich nicht viel mitbekommen, weil ich ihn kaum noch sah. Vielleicht irrte er ziellos durch die Nächte…
Das fällige „Ich hab‘s dir ja gesagt!“  brauchte ich mir so nicht verkneifen.
Später hat er ein Pferd geheiratet.

Der Rebell hatte es schon immer schwer, denn er muss sich immer wieder zwei existentielle Fragen stellen: „Wogegen?“ und „Wofür?“.
„Wofür?“ ist allerdings nicht ganz einfach, deshalb ist der Rebell traditionell erstmal dagegen. Schon James Dean wusste da keine rechte Antwort, und seit damals ist noch alles viel komplizierter geworden.
Jemand sang mal: „Es ist gut, wenn du weißt, was du willst, wenn du nicht weißt, was du willst, ist das nicht so gut...“
Was darf es denn sein? Das System? Sehr originell.
Was stimmt nicht daran? Alles. Wie sollte es sein? Anders.
Aha. Was gibt es noch? Freiheit? Ja, wir wollen doch alle frei sein!
Was genau stellt sich der Rebell da vor? Ja? - Da wird es schon stiller...
Was würde er dann tun, woran ihn die jetzigen Umstände hindern?
Am Ende läuft es wieder auf die Notwendigkeit von Erwerbsarbeit, Konsum und Produktion illegaler Drogen, oder Dinge, die anderen Leuten auf die Nerven gehen, hinaus. Langweilig.
Soweit kommt man aber nur selten, weil man vorher zum Spießer oder sogar Faschisten erklärt wurde...
Ach nein. Drei! Drei Fragen muss sich der Rebell stellen. Die dritte ist: „WIE?“
Wie greift er das System an? Rebellen müssen immer etwas angreifen. Oder Strukturen zerschlagen. Nachts bei Rot über die Straße gehen? Den Klodeckel oben lassen? Böse Wörter benutzen? „Reaktionen provozieren?“
Sehr beliebt: Zu festgelegten Zeiten an festgelegten Orten Strukturen zerschlagen. Eine Tasche Bier einfüllen und wie eine kaputte Platte „Ihr bekämpft das Volk!“ gegen die Polizeikette röhren. Wenn nötig stundenlang.
Manche schütten sich auch bloß regelmäßig (täglich) die Birne dicht und schimpfen über das System (Leben, Universum, Rest). Das ist wenigstens umweltverträglich.

Irgendwann, meist so um das dreißigste Lebensjahr, nutzt sich das ab.
Da sollte der Rebell irgendwas vorzeigen können, bei dem man sagen kann: „Ja, der macht sein Ding. Der weiß, was er will!“ Sonst wird er zum Schwätzer, Schwadroneur, Salonrevoluzzer. Vielleicht auch zum Verschwörungstheoretiker, einer, der weiß „was dahintersteckt“, was „unter der Basis ist“, und anderen dauernd die Welt erklären will.

Neulich sprach ich mit einer Dame, die sich ungefragt als Anarchistin outete.
Das fand ich interessant, denn laut Wiki „mussten die Anhänger dieser Ideologie die Antwort auf die Frage, wie ihr System denn bei größeren Einheiten funktionieren soll, bisher schuldig bleiben.“
Vielleicht wusste sie da mehr? Die Vorstellung einer Gesellschaft, in der nicht der Recht hat, der den größten Knüppel vorzeigen kann, ist ja an sich nicht unattraktiv. Sie lebte mal in einer zehnköpfigen WG, in der es angeblich funktionierte. Wie das zu machen sei? „Mit sehr viel Disziplin!“
Was denn geschehe, wenn einer sich partout nicht einigen will (ein Rebell!), hab ich nicht gefragt, aber ich vermute, dass der dann eben gehen muss. Bei einer WG mag das klappen, bei Städten, Ländern, Planeten stellt sich das weniger einfach dar.

Je mehr Gewühl, desto mehr Handgreiflichkeiten. Wie auf dem Oktoberfest. Ja, ich war da. Auch dieses Jahr wieder. Was soll ich sagen? Man hat schon 1.000 Geschichten gehört, und sie stimmen auch alle. Rund um die Wiesn, die ja eigentlich bloß eine Asphaltwüste ist, sind echte Wiesen angeordnet, auf denen sich, schön regelmäßig angeordnet, die Volltrunkenen ausschlafen. Weil die Wiesen schräg sind, rollt ab und zu einer runter und stört das Bild ein bisschen. Ausreichend Bäume für knutschende Paare sind aufgestellt.
Ich habe ein paar neue Positionen gesehen, die man beim Telefonieren einnehmen kann. Und ein paar neue Sprachen gehört, die sich dann aber doch wieder nur als ganz spezielles Bayerisch herausstellten.
Andere Feste tun gerne so, als würden sie irgendeine kulturelle Bedeutung haben. Das O-Fest ist da ehrlicher: Niemand würde behaupten, dass es um etwas anderes geht als rituelle Druckbetankung.
Erste Quest: Reinkommen! Bierzelte sind gerne um 11 Uhr vormittags schon voll, und das heißt nicht türstehervoll, sondern wirklich voll. Gegen die Naturgesetze kann man nichts machen. Da bleibt nur anstehen oder rein walzen. A bissel was geht allerwei...
Manchmal hilft auch zufälliges Vorzeigen von Geld oder Gutscheinen. Alles schon mit Erfolg probiert.
Wenn man dann eine Bedienung gefunden hat, was nicht so einfach ist bei einer Veranstaltung, auf der alle Frauen wie Bedienungen angezogen sind, bekommt man wirklich bald, was man bestellt hat, und das ist in 99,9% Prozent der Fälle eine Maß. Meine waren sogar bis zum Strich voll! Jaja! Nix mit Unterschank und Beschiss! Bier und Brathuhn sind die Basis, auf der das ganze Fest steht, und dabei sollte man auch bleiben, denn die Preise für exklusivere Getränke wie z. B. Weinschorle (Igitt!) lassen sogar Millionäre die Luft anhalten.
Und ansonsten wird Kantinenfraß zu Flughafenpreisen ausgekellt.

„Nett“  ist übrigens nicht das schlimmste Prädikat. Oder war.
Gut - Ganz gut - OK - Ganz OK - Nett - Ganz nett. Das war die sechsteilige Skala. Heute heißt es allenthalben „Great!“, „Awesome!“, „Outstanding!“. Superschön und supertoll. Und viele Herzchen auf Facebook. Aber wir müssen ja nicht jeden Quatsch mitmachen, der aus den Staaten rüber schwappt.

Dann werd ich mal bei nächster Gelegenheit, will sagen: Wenn ein lohnendes Objekt in Sicht ist, Komplimente machen. Mit den Haaren fang ich an. Das ist am einfachsten...

So, das muss erstmal reichen.
Robert
***
Lieber Robert,
die dunkle Jahreszeit ist gekommen. Die saisonale Depression ist ein Grund mehr zum Saufen. Da kann man noch so viele Kerzen anzünden oder Tageslichtduschen nehmen – es funzt nicht. Natürlich gibt es Schlimmeres als den Winter und die Nacht – du weißt, dass ich die Nacht, mit oder ohne Vampire, liebe. Doch darum geht es nicht.
Es ist dieses Abschied nehmen, das symbolisch in der Natur zelebriert wird – das Blühende, Helle geht zu Ende. Naja, und dann muss man auch wieder Weihnachten hinter sich bringen. Jedes Jahr schwört man sich, dass es das jetzt war, mit Stress und Feiern und Familien-Zoff, und dann hat man doch alles wieder.
Neulich ertappte mich mein Mann dabei, wie ich heimlich einen Flachmann Wurzelpeter leerte und im Altglas verscharrte. Gut, im Grunde habe ich nichts zu verbergen. Doch so ein Flachmann suggeriert ja immer gleich auch Pennertum. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass es leichter ist, einen Flachmann in den Einkaufstaschen nach Hause zu tragen als eine ganze Buddel. (Buddel im Büdel, wie der Norddeutsche sagt.)
Wer zu dieser Jahreszeit etwas auf sich hält, zündet sich ein paar Kerzen an und macht es sich mit einem Buch gemütlich. Ich persönlich liebe es, meine Kerzen selbst zu ziehen – das letzte Mal, als ich dies tat, versenkte ich versehentlich zwei blaue Kerzen in dem Fass mit rotem Wachs, was mir einen Tadel der Kerzenzieh-Werkstatt-Inhaberin einbrachte.
Und natürlich lese ich Vampir-Romane – weichgespülte Vampire, die sich mit menschlichen oder vampirischen oder hexischen Ladies auf pornografische Art und Weise verbandeln. Das war ja lange Zeit sehr angesagt. Ist es vielleicht immer noch. „Ein Vampir zum Frühstück“, „Ein Vampir in der Badewanne“, „Ein Vampir zum Kuscheln“, „Ein Vampir macht es sich im roten Samtsessel mit einem guten Buch und einer Buddel Blut gemütlich“, „Ein Vampir heult vor Freude in der Oper“, „Ein Vampir zieht seine Kerzen selbst“, „Ein Vampir kauft Kerzen im Kerzenladen für die Frau mit den hübschen blonden Haaren“, jaja, ich habe sie alle gelesen, jeden erdenklichen Titel, den es in diesem Genre gibt.
Erstaunlich dabei, dass wunderbar wortgewaltige englische Titel, wie „Huntress in the Night“, „Dark Lover“ oder „Waiting for the Black Moon“, stets mit sowas Banalem, wie „Küsse bei Nacht“, „Leidenschaft bei Vollmond“ oder „Liebschaft im Morgengrauen“ übersetzt werden – woran liegt das? An der Sprache itself? Oder an den dusseligen Übersetzern?
Noch schlimmer wird es bei der Übersetzung von französischen Schriftstellern – wenn dann nämlich tatsächlich Wort für Wort übersetzt wird, ergeben die deutschen Sätze einen völlig anderen Sinn!
Translation is always poison for lyrics, kann ich da nur sagen, aber was schwatz ich altklug daher…
Computerspiele sind auch eine willkommene Betäubung in der dunklen Jahreszeit. Früher konnte ich nicht verstehen, wieso jemand spielsüchtig werden kann – dem Himmel sei Dank, dass ich kein ECHTES Geld verjuxe!
Man wundert sich ja, wer noch so alles den lieben langen Tag am PC herum hängt und Browser-Spiele spielt. Was haben wir bloß früher gemacht? Ja, ich weiß: Bis zum Sendeschluss fern gesehen und telefoniert oder allein oder zu mehreren herum gesessen. Musik gehört. Im Auto an der Tankstelle schwadroniert. Türsteher bestochen. Und getrunken. Nun, wenigstens das bleibt immer gleich. Das Saufen scheint die einzige Konstante in der gesamten Geschichte zu sein – irgendwie beruhigend.
Dazu muss ich anmerken, dass ich neuerdings viel mehr Spiele im sogenannten Real Life spiele. (Auch diesen Ausdruck gab es früher nicht. „Es gibt nur ein Leben im Leben“, schrieb Adorno, aber das war vor der Erfindung von Second Life. Und was ist überhaupt Leben/Realität? Gibt es denn DAS Leben, DIE Realität? Nein, sagt der Konstruktivist, aber ich schweife ab…)
Jaja! Mein Mann und ich haben Poker wieder entdeckt (mit einer Seekuh und einer Katze aus Plüsch als dritten und vierten Mann), und Kniffel. Besonders angenehm für die Nachbarn, wenn sie ein Ehepaar haben, das die ganze Nacht lang laut johlend den Kniffelbecher auf den Tisch haut!
Da ich nicht rechnen kann, muss mein Mann immer alle Punkte für mich zusammen rechnen. Ich frage mich oft, ob er mich wohl dabei bescheißt, doch ich kann es nicht ändern, denn oftmals bin ich zu diesem Zeitpunkt schon dermaßen betrunken, dass ich froh sein kann, wenn ich ein Full House noch von einer Straße unterscheiden kann. „Mit solchen Leuten wie Dir spiel ich gar nicht“, brüllt er dann immer und wirft den Würfelbecher an die Wand.
Strip-Poker spielen wir selbstredend NICHT, denn dazu ist es zu kalt. Wir spielen um Münzen für den Öffentlichen Nahverkehr – ich bin immer ganz froh, wenn ich das Kleingeld gewinne, um einmal in die Innenstadt fahren zu können, um bei Lush Badebomben zu kaufen. Obwohl die ganz leicht herzustellen sind. Man braucht ungefähr die gleichen Zutaten, die man benötigt, um Plastiksprengstoff herzustellen…
Liebe Grüße,
viel Licht im Herzen und Wachs für Kerzen,
sendet dir VIDA
***
Meine liebe Vida,
das waren noch Zeiten, als man einfach so miteinander reden konnte! Ohne PC.
Und Sendeschluss? Was hat man eigentlich nach Sendeschluss gemacht? Ein Buch gelesen? Oder ist am Ende ins Bett gegangen? Ich kann mich verschwommen erinnern: Die Nationalhymne, Testbild - und dann: Rauschen... Genau genommen ist das, was heute nachts läuft, nicht weit weg davon: Irgendwann stellt sich von selber ein Rauschen ein.
Allein zu leben hat auch Vorteile! Man muss sich vor niemandem für Art und Menge des Leerguts rechtfertigen. Vielleicht hättest du die Buddel in einer braunen Papiertüte verstecken sollen? Das sieht man doch immer im Fernsehen.
Immerhin ist es konsequent: Warum sich hinter Wein verstecken, wenn es eh nur um den Alkohol geht? Man erreicht den Punkt, an dem alles egal ist, und man sagt sich: „Ich trinke, weil es mir schmeckt, UND weil ich besoffen werden will!“ Das war so seit Anbeginn der Zeit.
Ich habe im Leben nur einmal etwas wie Jägermeister oder eben Wurzelpeter getrunken, als ich mich bei einem Spanferkelessen so maßlos überfressen hatte, dass ich darnieder lag und mittels eines Kurzen wieder in die Senkrechte gebracht werden musste. Das war eine interessante Erfahrung, denn ich kannte es nur umgekehrt (erst Schnaps, dann darnieder).
Damals schrieb ich meine Auferstehung noch der geheimen Kräutermischung zu, heute weiß ich natürlich, dass es die 40 Umdrehungen waren, die meine überspannten Magennerven sediert hatten, so dass ich den Klumpen schmerzlos verarbeiten konnte.
Andererseits müsste ich DREI Stofftiere an den Tisch setzen, wenn ich pokern wollte. Das sähe nicht gesund aus. Strip-Poker wäre unter den Umständen sogar bedenklich. Ich kenne auch die Regeln nicht. Behält die Bank die Klamotten hinterher? Vermutlich würden die mich ausziehen!
Für euch als altes Ehepaar macht das Ganze eventuell wenig Sinn. Es gibt ja nichts Neues zu entdecken. Immerhin habt ihr euch gut gehalten und müsst nicht im Dunkeln spielen wie manch andere Leute in unserem Alter, bei denen man sich fragt, wie sie es geschafft haben, sich eine derartige Wampe anzufressen! Männer müssen eine gestörte Wahrnehmung haben, sonst würden sie doch merken, wenn sie langsam rechts und links aus dem Spiegel verschwinden. Oder?
Und die Frauen? Tun auch nix dagegen. Vermutlich, weil sie sich denken, wenn der Kerl aussieht wie Homer Simpson, besteht keine Gefahr, dass irgendeine andere sich für ihn interessiert. Das erklärt vielleicht auch den Webfehler in den Sitcoms: Da sind Frauen mit Modelqualitäten und Collegeabschluss, die Welt steht ihnen offen, aber was tun sie? Sie heiraten einen fetten, unterbezahlten Vollidioten, ziehen in eine Bude in der Vorstadt und werfen drei Kinder. Da stimmt doch was nicht!
Ich denke, Adorno hatte recht. Die Welt, in die man sich begibt, mag so virtuell sein wie sie will, man wird dort nicht viel anders sein als im Real Life. 
Wenn du hier Mann oder Frau oder Arschloch oder durchgeknallt bist, wirst du es überall sein, und wenn du etwas anderes probierst, fällt das irgendwann auf - oder es wird dir zu mühsam. 
Man kommt schnell zu der Frage, wem es leichter fallen könnte, sich in einer virtuellen Realität als das Gegenteil auszugeben. Mann oder Frau? Reicht es, viel zu reden und permanent Sachen zu kaufen, und schon geht Mann als Frau durch? Es gehört schon ein bisschen mehr dazu.
(Mit dem Konstruktivisten muss ich mal reden. Meiner Meinung nach hat er Unrecht. ES GIBT eine Realität!)
Vampire sind in Mode, hörte ich neulich auf einer wichtigen Veranstaltung zum Thema. Nicht Vampire, Bücher, die von ihnen handeln. Es müssen aber schon spezielle Vampire sein. Einfach Leute beißen und Spaß dabei haben, reicht nicht mehr. Nein, der Vampir muss Lokalkolorit haben. Oder wenigstens Zahnschmerzen. Es geht soweit, dass Verlage in die Runde rufen: „Wir brauchen bis nächstes Frühjahr 1.200 Seiten Vampir für die ganze Familie! Nicht nur für die 14-jährige Tochter! Wer macht das?“ Und genau so sehen dann die Ergebnisse aus. Das erinnert (gemahnt?) an die Zeiten, in denen Hera Lind noch neu und lustig war und sich Tausende von Autorinnen plötzlich aufgefordert fühlten, auch lustige Beziehungsromane zu schreiben, die dann aber in der Mehrzahl NICHT (mit oder ohne Katja Riemann) verfilmt wurden.
(Ich weiß, dass du dich jetzt gerade aufregst.)
Was wohl der Vampir an Komplimenten aus der Spitzenmanschette zieht?
„Sie sind die schönste Frau, die ich je gesehen habe!“ Das glaubt er doch nach ein paar hundert Jahren selbst nicht mehr. 
„Ich habe dich ausgewählt, um die Ewigkeit mit mir zu verbringen!“ Das ist zu kitschig und außerdem muss man mit solchen Ansagen vorsichtig sein. Sie könnten sich bewahrheiten.
Und es liegt wirklich an den Übersetzern. Nur weil jemand fließend Englisch kann, heißt das ja noch nicht, dass er/sie irgendwelche originellen Ideen hat. Ich beispielsweise hätte einfach „Jägerin der Nacht“ getitelt, und gut wäre es. Aber bei den Titeln drängt sich der Verdacht auf, dass da einer Frau (oder mehreren) die Wunschvorstellungen durchgegangen sind. Stichwort pornografische Annäherung.
Ich habe nicht mal drei Stofftiere.
Es ist also alles sinnlos…
Robert
***
Lieber Robert,
es ist Winter, Winter, Winter – seit Monaten, so scheint es. Nein, es scheint nicht nur so, es waren Monate. Ich mag den Winter nicht, und ich hasse Weihnachten. Jedes Jahr zu Weihnachten geschieht mir ein Unglück, das geht so, seit ich erwachsen bin. Als ich noch ein Kind war, war Weihnachten toll. Aber dann begann die Unglücksserie eines Tages. Ein Mann machte mit mir Schluss. Am Heiligen Abend. Von da an ging’s bergab.
Keine Frau ist gut damit bedient, um Männer, die es nicht wert sind, Tränen zu vergießen, das wusste schon Zara Leander, von der meine Großmutter, Gott hab sie selig, immer sagte, sie hätte sich viel früher in den Ruhestand verabschieden sollen, weil sie „zum Schluss so eklig dürre Finger“ hatte.
Auch dieses Weihnachten gab es wieder jede Menge unnützes Geraffel, glücklicherweise nichts wirklich Schlimmes, wie oft in den Jahren zuvor. Nun kann ich es kaum erwarten, dass es Frühling wird, denn Ostern mag ich mehr als Weihnachten, womöglich weil ich im Frühjahr geboren wurde, oder weil es ein bisschen wie Weihnachten ist – nur ohne Generve.
Ich schreibe dies in Ermangelung eines guten Fernsehprogramms am Abend, insofern sind wir kein Stück weiter gekommen in den vergangenen zwanzig Jahren. Bis auf die Tatsache, dass man alles, was gut ist, mittlerweile hundertmal gesehen hat – also nichts als Wiederholungen anstelle vom Testbild. Was ist nun besser?
Ich bin FETT geworden über Weihnachten, es ist zum Heulen. Neulich kaufte ich mir ein Buch mit dem Titel „Fettfalle Vierzig“, und in die bin ich eindeutig getappt. Es heißt, dass frau mit Vierzig nicht mehr das essen kann, was sie mit Zwanzig gegessen hat, ohne zuzunehmen, weil der Stoffwechsel sich so extrem ändert. Schlimm ist auch, dass frau nicht mehr ungestraft saufen kann (Alkohol ist kalorisch gesehen wie flüssiges Fett!). Mein Mann sagte, uncharmant wie eh, zu mir, es wäre kein Wunder, dass ich bei dem, was ich essen  und dazu TRINKEN würde, zunehmen täte. (Ich sprach drei Tage nach dieser Aussage nicht mehr mit ihm.) Gut, ich gebe mir nicht mehr die Mühe, die leeren Amaretto-, Jägermeister-, Tequlia- oder Sonstwie-Flaschen beiseite zu räumen, aber lieber höre ich auf zu essen, als zu trinken!
Mein Mann liebt die Wahrheit und ist sich nicht zu schade, sie ungestraft herauszuposaunen. Anstatt mal höflich zu sein!
Ehrlichkeit bei einem Mann ist was Feines, aber alles hat Grenzen. Und da kommen wir wieder zum Thema Realität: Es kann keine endgültige Realität geben, weil alles subjektiv ist. Was also ist tatsächlich real? Wer soll das beurteilen?
Mein Mann also überfällt mich eines Nachts und beißt mich wie wild überall hin. Ich schrei: „AUUUUUUUUUUU, aufhören!“ Er meint: „Wieso? Ich dachte, du stehst auf Vampire, und findest es sexy, wenn die dich beißen!“ Ich sag: „Ja, aber son echter Vampir hat ja auch keine MENSCHENZÄHNE und spinnt einen sexuell bezaubernden Bann um die Frau, die er begehrt…“
„Ach???“, kreischt meint Mann, „das ist also deine Wahrnehmung von Vampiren? Ich sage doch seit jeher, dass Vampire böse sind und nicht sexy!“ „In deinen Horrorfilmen vielleicht“, brüll ich, „nicht jedoch in meinen Vampir-Pornos, da sieht die Welt ganz anders aus!“
Du siehst: Wenn man mal davon absieht, dass es Vampire gar nicht gibt – in der VORSTELLUNG allein sieht das jeder anders – und dann gibt es deswegen sogar noch einen Ehestreit! Was so typisch ist für Ehestreitereien: Es geht selten um wirklich wichtige Themen, sondern darum, welche Vorstellungen von Vampiren richtig ist und ob die Zahnpastatube zu ist oder verdreht oder zerquetscht.
Oder ob mann oder frau dick ist oder dünn. Nach wessen Maßstab???
Hätte ich einen Schuppen von einem  Mann, wäre ich eine zierliche Frau. Da mein Mann aber total dünn ist, wirke ich neben ihm dick. Dann gibt es noch die wirklich dürren Männer, die auf wirklich fette Frauen stehen. Was finden die an denen? Was finden die dünnen Frauen an den dicken Proleten? Was findet Marge an Homer?
„Sie liebt ihn eben“, sagt mein Mann, und vermutlich ist dies die Antwort. Liebe macht blind, stimmt aber auch gnädig und milde. Man könnte auch sagen: Liebe ist erhaben über Äußerlichkeiten, zumindest echte Liebe. Was liebt man dann? Die schöne Seele im Inneren oder bloß eine Projektion? Man weiß es nicht genau, und in meiner Vorstellung von Vampiren, sind sie erhaben und unsterblich und sexy, natürlich auch böse, aber was ist verkehrt daran? Wer will schon lieb und nett sein? Ich meine, wer will das ernsthaft???
Nur böse und nur kalt und nur monströs – auch das ist eine Wahrnehmung, die irgendwoher rühren muss, und auch diese Vorstellung muss irgendeine Berechtigung haben.
Einen Bösen zu schaffen, den man hasst, ist einfach – etwas Böses zu lieben, ist näher an der Realität. Denn niemand ist nur gut…
Was gut oder böse ist, unterliegt auch oft einfach nur dem Zeitgeist. In den Siebzigern hat der Held gebarzt und gesoffen ohne Hemmungen, und in den heutigen amerikanischen Thrillern ist der Böse immer der, der raucht! Der Raucher ist also zum personifiziertem Bösen mutiert, sogar die Vampire, die keinen Herzschlag und keine funktionstüchtige Lunge haben, weil sie ja schließlich tot bzw. untot sind und zu keiner Zeit Interesse am Rauchen hatten, tun dies heutzutage, eben weil es BÖSE ist zu rauchen.
Früher lachte man über denjenigen, der in einer Telefonzelle stand vor einem VW-Käfer mit der Aufschrift „KULT!!!“, ja – mit drei Ausrufezeichen, und nicht in der Lage war, an einem Joint zu ziehen. Der Außenseiter war der, der den Joint vor lauter Husten fallen ließ. Heutzutage wäre er vermutlich der Held. Husten angesichts des haschischverseuchten Qualms wäre so wie die diabolischen Geister austreiben, was ein Unding in den Siebzigern gewesen wäre. Der Mick (Jagger) und der Kies (Keith Richards) waren cool. Und sie sind es heute noch! Okay, sie sind alt – so what??? Uns allen blüht dieses Schicksal. Und wer wäre Sherlock Holmes ohne seine Pfeife gewesen??? Wer hätte sein berühmtes „Drei-Pfeifen-Problem“ gelöst???
Saufen ist immer noch einigermaßen gesellschaftlich akzeptiert. Vielleicht nicht mehr so wie zu J.R. Ewings Zeiten, aber immerhin wähnt der Säufer sich im Gegensatz zum Raucher immer noch in relativer Sicherheit – wenn es denn sowas gibt. Was ist Sicherheit? Gibt es das überhaupt? Was ist im Leben sicher? Wer sicher sein will, sitzt bereits hinter einer Mauer, die Tod bedeutet.
Was meinst du?
Liebe Grüße
sendet dir VIDA
***
Meine liebe Vida,
ich finde den Winter klasse! Frühling ist auch gut. Und Herbst. Sommer weniger. Ob das daran liegt, dass ich ein Wintergeborener bin? Sicher haben die meisten Leute eine Vorliebe für die wärmeren Monate, aber es wäre doch interessant zu wissen, ob Menschen, die im Winter geboren sind, eine überdurchschnittliche Affinität zu Schnee haben.
Der Winter liefert schöne Bilder: Eis, Mond über kahlen Bäumen, vielleicht ein Stern daneben und unten ein Schornstein mit Rauch. Und Stille. Stille ist wichtig. Ich hab mir mal ausgedacht, dass jede Jahreszeit etwas ihr eigenes hat: Der Winter hat ein Geräusch (ich habe es gehört!), der Frühling hat den Geruch und der Herbst die Farbe. Der Sommer... Da fiel mir erst nichts ein, aber es blieben nur Geschmack und Fühlen übrig. Sommer ist also zum Anfassen. Das passt.
Sicher sind im Leben nur zwei Dinge: der Tod und die Steuer. Allem anderen kann man irgendwie aus dem Weg gehen. Sogar der Fettfalle. Wenn man sie vorher sieht. Hinterher wird es schwer. Und gerade für eine wie dich! Immerhin gehört es zu deinen sympathischen Eigenschaften, dass du so gar keine Hemmungen bei Speis und Trank hast. 
Beim Sex vermutlich auch nicht, aber es geht hier ja um die Kalorienaufnahme, nicht um die Verbrennung. Aber das wäre eine angenehme Möglichkeit, den Verbrauch zu erhöhen.
Was für Möglichkeiten zum Abnehmen gibt es noch? Qualität statt Quantität? Aber dann schmeckt das alles wieder so gut, und man kann nicht genug bekommen. Ein Teufelskreis! Da fällt mir ein: Kennst du den Film mit Robert Morley als Gastronomie-Kritiker, der alle Spitzenköche umbringt, weil er sich sonst an ihrem Essen zu Tode futtern würde?
Nicht mehr trinken? Niemals!
Nicht mehr essen? Auch nicht. Das wäre schlimmer, als auf Sex zu verzichten. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.
Du könntest es natürlich wie Madonna anfangen, auf die Gefahr hin, dass dein Mann dich irgendwann als hysterischen Knorpelsack bezeichnet und die Scheidung einreicht. Ehrlich genug wäre er ja dafür.
Iris Berben erhält sich eigenen Angaben zufolge ihr Aussehen durch drei Liter Wasser und eine Flasche Rotwein täglich. Rotwein sei gut als Begleiter zum Essen. Und auch sonst. Ich finde, das ist ein sehr angenehmes Rezept.
Über die Liebe mache ich mir keine Gedanken. Liebe ist digital: Sie ist da oder eben nicht. Deshalb gibt es zum Glück auch kein Liebes-Thermometer. Sie kommt oder geht: Niemand kann dafür. Niemand kann es erklären. Deshalb bleiben die dünnen Frauen bei den fetten Kerlen. Oder weil sonst die Serie zu Ende wäre? In „Family Guy“ hat die Dame des Hauses immerhin den Hund geheiratet, als der fette Kerl verschollen war.
Du machst es deinem Mann bei aller Liebe aber auch nicht leicht: „Bezaubernder sexueller Bann“! Wie soll der arme Kerl von der anderen Seite des Bettes das denn anstellen!? Immerhin bemüht er sich, deinen Vorlieben nachzukommen. Was könnte er noch tun? Sich in einen schwarzen Umhang hüllen (unbedingt mit rotem Innenfutter!), wie der Graf ins Zimmer huschen und im Kerzenschein um dich herumspringen? Womöglich in einem Fledermausstring? Nein, nicht gut? Hm. Ich würde ihm raten: Da er kein Vampir ist, sollte er auch nicht versuchen, einen darzustellen. Das kann nur schief gehen. Vielleicht hat er ja irgendeine andere Figur drauf? Den Unsichtbaren? Den rabaukigen Seebär? Oder den Schneemenschen. Du magst doch Männer mit Haaren...
Überhaupt: Haare! Neulich, an einem Tag mit richtig schlechtem Wetter (ich kann mich irren, aber ich glaube, der Schnee kam sogar von unten), bei dem genau eine Spezies freiwillig vor die Tür geht, war ich im Museum und guckte mir lustige, ausgestopfte Pelztiere an und fragte mich zwangsläufig, warum die Tiere einen Pelz haben und ich nicht. Das wäre doch so praktisch! Gerade bei diesem Wetter! Unfair. Aber warum haben Menschen kein Fell? Ich meine, so ein richtiges. Nicht das fiese Gekräusel auf dem Rücken. Affen haben eins, und die leben klimatisch sehr viel günstiger, und Schatten gibt es im Urwald auch. Haben wir kein Fell, weil wir uns was anziehen können? Das kann es nicht sein. Haben Affen keinen Bart, weil sie sich nicht rasieren können? Das klingt auf den zweiten Blick gar nicht so absurd: Stell dir mal einen Affen vor, dem das Sauerkraut ungebremst aus dem Gesicht wächst. Der tritt da irgendwann drauf und fällt vom Baum... Buff. Raus gemendelt.
Warum sind Affenweibchen genauso behaart wie ihre männlichen Artgenossen, Menschenweibchen aber glücklicherweise eher selten?
Ich habe an diesem Tag keine Antworten darauf gefunden, aber ich hatte, umgeben von so viel Wissenschaft, eine Erkenntnis:
Würde ein intelligentes Wesen (also zum Beispiel du oder ich) vor die Aufgabe gestellt werden, zum einen ein dreißig Meter langes Wassertier und zum anderen einen fünf Zentimeter kurzen Nager (inklusive Schwanz) zu entwerfen, würde es da auf den selben Grundbauplan zurückgreifen?
Vermutlich nicht, denn die Anforderungen, denen sich die beiden stellen müssten, wären grundverschieden. Man baut ein Boot und ein Landfahrzeug auch nicht nach demselben Plan, mit ein paar Modifikationen hier und da, hier den Mast höher, da die Räder größer. Wenn man es doch versucht, sieht das Endergebnis wie ein Karnevalswagen aus und kann im Grunde keins von beidem, weder schwimmen, noch fahren. Wenn man dann zudem versuchen würde, den Bauplan auf die Hinterbeine zu stellen, wäre das Desaster komplett. Intelligenz sieht anders aus. Wenn also von Anfang an genau ein Plan existierte, an dem sich die Evolution abarbeiten musste, weil eben kein zweiter oder dritter zu Verfügung stand, was kann dann dabei herauskommen? Es kann perfekt sein oder ein mehr oder weniger guter Kompromiss wie der Mensch... Es war nicht vorgesehen, dass wir uns auf die Hinterbeine stellen. Unsere Füße sind zu schwach, unsere Knie auf die Dauer mehr als fragwürdig, unsere Kinder kommen zu schmerzhaft auf die Welt. Wir haben Knochen, die brechen, und Innereien, die sich entzünden. Und das ist nur ein Ausschnitt aus allen möglichen Krankheiten, die wir bekommen können.
An dieser Stelle wird immer wieder der Einwand vorgebracht, die göttliche Intelligenz müsse nicht zwangsläufig Perfektion hervorbringen. Hallo? Der große Gott, der allmächtige und allwissende, gibt sich mit weniger als Perfektion zufrieden? Hatte er keine Lust mehr? Kam die Sportschau? Ist er womöglich ein Stümper? Sind wir eine Beta-Version?
Das ist doch nichts weiter als ein Ad-Hoc-Argument, wie es Theologen, Handaufleger und sonstige Scharlatane gerne aus dem Hut ziehen, wenn die Realität sie mal wieder in die Ecke gedrückt hat.
Und diese Realität gibt es! Da bin ich hundertprozentig überzeugt. 
Wo kämen wir denn sonst auch hin?
Man kann sich und anderen natürlich die Frage stellen, ob jeder die Welt auf die gleiche Weise sieht, aber diese Frage ist meines Erachtens nutzlos, weil sie nicht beantwortet werden kann, denn man kann nicht mit den Augen eines anderen sehen. Wenn zwei Menschen die Welt auf signifikant unterschiedliche Weise erleben würden, würden sie sich früher oder später trennen oder die Köpfe einschlagen. Und das sind nur zwei!
Dieser Brief ist real. Die Treppe, die du an diesem einen Weihnachten runtergefallen bist, war auch real, und auch wenn die blauen Flecken nur rein subjektiv weh taten, so waren sie doch objektiv da, denn der Doktor hat sie auch gesehen.
Oder: Ich gehe nach einem Jahr durch eine Straße und da steht ein neues Haus. Du gehst einen Tag später da vorbei und siehst es auch. Warum sollten wir uns unabhängig voneinander einbilden, dass dort ein neues Haus steht?
Das Ganze zeigt in die Richtung des Baumes, der im Wald umfällt, ohne dass es jemand mitbekommt...
Wie aber einer nun den Vampir im Allgemeinen oder Speziellen sieht, das muss wohl wirklich für immer subjektiv bleiben. Ich glaube, der Post-Dracula-Vampir entspringt der Überlegung, dass man sich mit seiner Umwelt arrangieren muss, wenn man auf Dauer überleben will, und wer, wenn nicht ein Vampir, könnte die Bedeutung des Wortes Dauer beurteilen. Man ist zwar mächtig und nahezu unsterblich, aber Menschen lernen dazu, und sie sind viele, und wenn man die Dinge schleifen lässt, steht irgendwann Van Helsing vor der Tür und wird ungemütlich.
Vielleicht liegt es auch daran, dass der klassische Vampir ausgelutscht war. Oder Christopher Lee nicht mehr wollte.
Es ist aber auch nicht wahrscheinlich, dass jemand mit solchen Möglichkeiten einfach jahrhundertelang auf einer zugigen Burg in den Bergen sitzt und im Wesentlichen nichts tut. Das ist weder erhaben, noch sexy und gibt so gar keinen Stoff für Bücher her.
Stell dir mal so ein „Tagebuch eines Vampirs“ vor:
„3. Juni 1895: Es ist heute Nacht wieder sehr dunkel. Im Verließ aufgeräumt. Bin letzte Woche über einen Sarg gestolpert. Ich hätte mich mit einem Pflock verletzen können!
4. Juni 1895: Habe die Fledermäuse abgestaubt. Brauche dringend eine Putzfrau, aber es meldet sich niemand auf meine Anzeige. Wohne wohl zu weit draußen.
6. Juni 1895: Die Wölfe heulen, aber nur Tratsch dabei. Wer mit wem und warum. Gestern waren Leute am Tor. Ich glaube, sie wollten Fackeln und Mistgabeln verkaufen. Wollte ein paar Fackeln nehmen, aber als ich rauskam, liefen sie weg. Habe keine Verwendung für Mistgabeln.“
Damit füllt man vielleicht 2.000 Seiten, aber wer will das lesen?
Über das Rauchen, Saufen und Fernsehen... Darüber könnte man einen eigenen Roman schreiben!
Ich bin allerdings sehr froh über das Internet. Sonst müsste ich heute noch fernsehen. Grauenhafte Vorstellung. Die privaten Sender diskutieren darüber, ihr Programm auf Pay-per-View umzustellen, weil die Werbung sie nicht mehr finanzieren kann. Und mehr Werbung müssten sie senden dürfen...Vor fünfzehn Jahren klang das Lied noch anders.
Ich bin da sehr für! Ich denke, dass zum Beispiel Sat1 sein Programm komplett darauf umstellen sollte. Dann wären wir sie los.
Dein dir aufrichtig zugetaner
Robert
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Mein lieber Robert,
also, SO ein „Tagebuch eines Vampirs“ würde ich zu gerne lesen! Auch über 2.000 Seiten und länger. Nehmen wir an, der Vampir führt über Jahrhunderte dieses Tagebuch, dann stellt es eine bedeutende Chronik der Geschichte dar. Vorausgesetzt, es geht nicht nur um seinen verstaubten Keller und das Flattern der Fledermäuse und das Heulen der Wölfe. Solche Sachen füllen vielleicht ein Jahrzehnt, aber nicht mehr.
„8. April 1530: Im Dorf brennen wieder die Scheiterhaufen. Ich kann es bis hierhin riechen. Es ist eine Unverschämtheit, wie dieser Pöbel die Luft verpestet! Kann man nicht EINMAL seine Ruhe haben??? Früher war alles besser!“
Ein paar Bände und Jahrhunderte weiter würde man vielleicht diesen Eintrag finden:
„Jetzt donnert hier immer die Eisenbahn vorbei. Das stört mich beim Lesen. Was für eine Erfindung! Warum müssen Menschen immer irgendwas erfinden? Kann man nicht einfach seine Ruhe haben??? Früher war alles besser!“
Und dann, in der Gegenwart angelangt:
„Ich bin endlich am Netz! Mann, das hat gedauert, ich hatte so einen Ärger mit dem Provider! Ein paar Emails gelesen und beantwortet. Nichts Wichtiges. Anne Rice fragt nach einem Interview. Kann man nicht EINMAL seine Ruhe haben??? Früher war alles besser!“
Das ist Geschichte! Live miterlebt!
Wenn man bedenkt, an was sich so ein unsterbliches Wesen im Laufe der Zeit alles anpassen muss, um lebensfähig zu bleiben… Wäre er heute nicht im Internet, könnte er im Vampir-Forum keinen Thread darüber schreiben, wie gelangweilt man sich nach 600 Jahren Existenz fühlt. Auch wenn der Bücherschrank prall gefüllt ist und man die halbe Nacht damit verbringen kann, „Vampire Wars“ auf Facebook zu spielen.
Ich denke, der Vampir von heute geht ungern auf Reisen, auch wenn die Fahrt von Transsylvanien nach England nicht mehr so lange dauert wie zu Bram Stokers Zeiten. Stokers Dracula musste sich ja auch nur deshalb räumlich verändern, weil er die Dörfer um sich herum schon alle ausgesaugt hatte und er sich neue Jagdgebiete erschließen musste. Das ist zumindest meine Interpretation. Und darum denke ich, dass der moderne Vamp in Großstädten lebt, wo es nicht so unangenehm auffällt, wenn mal wieder ein Mensch etwas blutleer aussieht oder gar fehlt.
Der moderne Vampir mischt sich unter Umständen sogar unters Volk, um mal was anderes zu erleben, als des Nachts im Kerzenschein eines fünfarmigen Silberleuchters in seinem roten Samtsessel zu sitzen und melancholische Prosa zu lesen, oder gar zu dichten!
Als intelligenter Aktienanleger, der über genügend Zeit verfügt, dass ihm bei Kursschwankungen lediglich ein müdes Lächeln über die hohlen kalten Wangen huscht, kann er sich zum Beispiel eine Firma kaufen, eine Blutbank etwa, oder in der Politik mitmischen. Seelenlos genug ist er ja dafür. Oder zumindest skrupellos genug. Er könnte auch ein großes Tier bei der Mafia werden – oder Künstler. Alle Leute, die überwiegend nachts unterwegs sind, gehören zum Kreis der Verdächtigen.
So stelle ich mir das alles vor. Jemand anderes mag anders darüber denken. Jeder hat so seinen eigenen Vorstellungen und Überzeugungen.
Du schreibst: „Wenn zwei Menschen die Welt auf signifikant unterschiedliche Weise erleben würden, würden sie sich früher oder später trennen oder die Köpfe einschlagen.“
Ist es nicht genau das, was jeden Tag passiert? In jedem Kriegsgebiet, in jeder Ehe?!
Die Gründe für das Köpfe-Einschlagen sind immer gleich: Der eine sieht die Welt so, und der andere anders. Jeder erlebt die Wirklichkeit ganz subjektiv. Du siehst ja; der eine findet den Winter schön, der andere nur grässlich kalt. Wer hat nun recht? In gewisser Weise lebt doch jeder in seiner ganz eigenen Welt. Leider kann man nicht einfach die Körper wechseln, um mal zu erleben, wie ein anderer denkt und fühlt. Auch wenn wir heute schon das Gehirn mithilfe moderner Medizin bis in den kleinsten Winkel ausleuchten können, so führt dies noch lange nicht zur allumfassenden Erhellung. Der menschliche Geist mit all seinen Gedanken und Emotionen und Verirrungen ist im Großen und Ganzen weiterhin ein Rätsel.
Man kann nur mutmaßen, welche Rolle Genetik, Sozialisation und die persönlichen Erfahrungen des täglichen Lebens dabei spielen, wieso der eine die gleiche Situation als gut bewertet und ein anderer sie als schlecht. Selbst das von dir genannte Haus kann unterschiedlich wahrgenommen werden. Der eine möchte unbedingt in so einem Haus wohnen, dem anderen gefällt die Bauweise nicht.
Es gibt so viele unterschiedliche Meinungen wie es Neigungen, Geschmäcker und Hobbies gibt – vermutlich noch mehr.
Neuerdings meinen ja viele Leute, dass sie fähig sind, Lyrik zu produzieren. Oder vielleicht merkt man heute auch nur wegen des Internets, wie viele Leute es tatsächlich sind, die daheim am Herd oder weinselig unter der Bettdecke abgedroschene Reime aufschreiben – früher hatten die unbegabten Schreiberlinge wenigstens nicht die Möglichkeit, diesen Schrott hemmungslos zu verbreiten.
Beim Surfen stieß ich jüngst auf solch eine RUNKELRÜBENLYRIK. Da schrieb jemand diese schlimme Sülze, aus der ich, bevor ich sie hier zitieren konnte, wohlgemerkt auch noch gefühlte 1.000 Rechtschreibfehler raus fischte, um den entsetzlichen Inhalt freizulegen – und ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen: DIESER MIST IST NICHT VON MIR!!!
„Suche mich, ich werde dich finden.
Dich für immer an mich binden.
Süchtig sollst du nach mir sein,
sehnen dich nach mir allein.
Kein Entrinnen, oh, süßer Schmerz,
kein Schutz vor dem gebrochenen Herz,
kein Teil von dir bleibt unberührt,
kein Stück des Ganzen unverführt.
Du bist mein, und ich bin dein.
Nie wieder werden wir dieselben sein.
Das Sehnen nimmt die Kraft zu nehmen.
Süchtig werden wir, zu geben.
Such das Sehen in meinen Augen,
such in meiner Seele deinen Glauben,
such meine Stimme, um für dich zu singen,
such in meinen Ohren nach den Klängen.
Sehne dich nach meinem Schmerz,
sehne dich, oh, süßes Herz,
sehne dich für mich zu beben,
Sehne dich, in mir zu leben.
Süchtig bist du, oh, mein Herr,
süchtig und von Sehnsucht schwer,
sehnst du dich, mich zu verschlingen?
Süchtig bin ich dich mir zu bringen.
Am Ende wird die Sucht uns richten
und das Sehnen uns vernichten.
Doch wer klagt an das sehnend Herz,
der nicht kennt den Sehnsuchts -Schmerz?“
OMG! OH welch GRAUS!!! Das tut weh, oder? Das grenzt doch an Körperverletzung, zumindest aber an den Tatbestand der Psychischen Grausamkeit. Man will sich unweigerlich die Scham vom Leib schütteln, wenn man das liest. Allein „Herz“ auf „Schmerz“ zu reimen ist schon so eine dilettantische Ungeheuerlichkeit, die unter Strafe gestellt werden sollte. Können diese Menschen das nicht in ihr Tagebuch kritzeln und es dabei belassen? Wie früher auch?
(9. November 1788: Heute wieder versucht zu dichten. Mein Herz ist schwer und erfüllt von Sehnsucht. Da verlangt es mich immer danach, melancholisches Zeugs von mir zu geben. Bin wohl zu lange abstinent gewesen, brauche wieder Blut. Auf Blut dichtet es sich auch besser. Aber in dieses Drecks-Kaff kommen ja keine Touristen!“ Hm, gab es im 18. Jahrhundert den Ausdruck „Touristen“ schon?)
Außerdem ist dieses Rumgesülze viel zu lang! Ein Gedicht soll ja grad ein Gefühl (und bitte nicht immer nur flammende Liebe oder furchtbare Verzweiflung!) oder einen Sachverhalt verdichtet zum Ausdruck bringen. Bliebe hier also grad mal ein Satz:
„Ich habe Sehnsucht und möchte dich ficken!“ Fertig. ENDE.
Und ich wette mit dir: Dieser ungeniale anonyme Schreiber ahnt noch nicht einmal, was Schmerzen sind! Die stellt er sich in seinem 18-jährigen Hirn so romantisch und herrlich vor. Aber sollte mal wirklich was wehtun, dann ist der doch der erste, der nach seiner Mama schreit. Oder er kratzt sich Emo-mäßig die Arme auf und verheult seinen Kajal, bevor er aus dem Fenster hüpft.
(Die Runkelrübenlyrik ließe sich in solch einem Fall zu einer Drohung verdichten: „Ich muss mit dir ficken, sonst hab ich Schmerzen und spring in den Tod!“ Drama, Liebe, Wahnsinn – in einem Satz.)
Hach, diese peinliche Möchtegern-Poesie ist doch viel schlimmer als die Werbepause im Fernsehen! Warum denkt jeder, er könne sich an einer Königsdisziplin wie der Lyrik versuchen? Und den Dreck dann in die Welt schreien? Schauderhaft…
Neulich schrieb einer auf Facebook, einer von meinen üblichen 500 Freunden, weißt ja: „Eine Träne der Liebe ist mehr wert als ein Meer voll Gold.“ Ich hab das dann dekonstruiert und gepostet: „Ein Meer voll Gold ist de fakto mehr Wert als eine Träne!“, aber das wollte der nicht hören.
Herzlichst,
deine Vida
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Meine liebe Vida, 

im 18. Jahrhundert nannte man solche Menschen Reisende. Das klingt auch heute noch vornehmer. Touristen sind die anderen.
Der Reisende hat Zeit, Geld und alte Lederkoffer und schaut auch in abgelegene Täler mit baufälligen Schlössern und seltsamen Bewohnern...
Deshalb nannte Goethe es auch nicht die „Italien-Tour“. Allerdings wäre der heute schneller unterwegs. Wenn es heißt, der und der hat sechs Monate das und das Land bereist, dann klingt das immer toll. Nach Bildung und Interesse und so. Dabei muss man sich aber fragen, ob man denn ein Land in weniger Zeit richtig kennen lernen kann.
Ich bin heute so dekonstruktivistisch. Obwohl Dekonstruktivisten eigentlich meiner Meinung nach Wichtigtuer und Besserwisser sind, die sich gut fühlen, wenn sie anderen den Spaß verderben können. Vielleicht bin ich auch verzweifelt. 
Vor meinem Haus steht eine Litfasssäule – neuerdings beleuchtet, falls die Zielgruppe nachts bestrahlt werden will –, auf der aktuell mehrere junge, schöne Menschen, wie sie in der Form und Zusammensetzung nur in der Werbung vorkommen, ein Mobilphon angrinsen. Es geht um irgendwas mit Netzwerk und Community. 
Auf diesem Phon hat ein anderer schöner Mensch tatsächlich „Ich bin jetzt mal joggen“ gepostet. Wow! Gut, dass seine Community das jetzt weiß. Sonst würde sie ihn vermutlich für tot erklären, wenn er in der nächsten Stunde keine weiteren wichtigen News raushaut.
Und da soll einer nicht vom Glauben abfallen!? Ich frage mich, was für Hansel sich so was ausdenken, und ob die das ernst meinen.
War es Tucholsky, der sagte „Ironie... versteht der Leser nie!“?
Für die Werbung gilt das wohl nach allen drei Seiten.

Der Dekonstruktivist würde auch fragen, wie denn der Vampir auf seinem Schloss ans Internet kommt. Hat er die Zigeuner gezwungen, ihm eine Leitung zu legen? Und wenn er in einen Mode-Vampir-Chatroom einsteigt, muss er doch glauben, dass er von Bekloppten umgeben ist. Möglicherweise gibt es Chaträume für echte Vampire. Nur wie finden? Bei Google „Chaträume für garantiert echte Vampire“ eingeben? Da wird es nicht viele Treffer geben. Oder eine Million unseriöser. Wahrscheinlich Letzteres. Aber vielleicht gibt es eine Google-Map von allen Schlössern mit noch aktiven Vampiren?

Heines Heinrich muss ganz schön gelitten haben, als er diese Runkelrübenlyrik erfand. Der lebte ja in solchen Zeiten, als die Leute flächendeckend das Lesen anfingen und im ersten Überschwang glaubten, dass jeder, der ein Gedicht oder einen Roman lesen kann, so etwas auch schreiben könne. Je tiefsinniger, desto besser (Achtung: Romantik!). Klingt vertraut, nicht? Genau so sahen die Ergebnisse dann auch aus. Und wie sieht eine Runkelrübe aus? Heine wusste es noch! (Nachgeschaut: Die Rübe ist insgesamt unansehnlich, macht eine Menge Kraut und taugt als Viehfutter.) Das Phänomen scheint also nicht ganz neu zu sein.
Und nun zu deinem anonymen Schreiberling: Was denkt sich unser hinkender Silbensetzer wohl dabei? Denkt er überhaupt was? Überschwang? Tanzt er federleicht über die mondbeschienene Lichtung? Fließt ihm das Herz über? Sicherlich benebelt ihm das Gefühl von Verliebtheit das Hirn. Und da kommt dann so was bei raus. Man (also ich) denkt, dass einer, der dichten will, erstmal viel gelesen haben muss, um zu wissen, wo er steht. Deshalb lasse ich auch die Finger davon. 
Ich habe zu viel Respekt vor denen, die es können und konnten.
Ich glaube, er hat überhaupt nichts gelesen, denn sonst hätte er den Krampf entsorgt und nie wieder einen Stift in die Hand genommen. Auf Drogen oder Alkohol kann er sich auch nicht rausreden. Der meint das!
Vermutlich wird diese Buchstabensuppe von lauter 18-Jährigen produziert, die glauben, die Welt schulde ihnen ein Leben und ihre Gefühle und Gedanken wären spektakulär, weil sie vor ihnen noch keiner hatte. Es scheint da Unmengen von Schmerzen zu geben. Ständig. Weltallumspannend. Mindestens.
Ich glaube, ich sollte so was sammeln. Wenn ich 100 zusammen habe, und ich befürchte, ich finde wirklich so viele, dann gebe ich einen Sammelband „Schlechte Lyrik“ heraus. Unterteilungen sind vielleicht:
1. Ewige Liebe
2. Ende der ewigen Liebe
3. Die Welt versteht mich nicht
4. Ich verstehe die Welt nicht
5. Allgemeine Dunkelheit
Ich bin sicher, keine Frau hat was gegen einen knackigen Vierzeiler einzuwenden (oder andere knackige Dinge). Aber dazu braucht man eben Talent und nicht nur das Reimlexikon. Deshalb überzeugt deine Zusammenfassung durch ihre Stringenz: Ein Satz, und man weiß, was Sache ist. Obwohl man es noch radikaler auf den Punkt bringen könnte, etwa: „Ficken?“ Ob er damit allerdings weiter kommt als mit der Langversion, weiß ich natürlich nicht. Das hängt ja auch von der angesprochenen Dame ab...

Womit wir wieder vor dem ominösen gedachten Haus stehen: Dem einen gefällt es, dem anderen nicht. Dem einen ist es zu groß, dem anderen nicht. Vielleicht, weil der eine nur 1 Meter 60 groß ist und der andere 1 Meter 90. Vielleicht mag der eine es in Pink und der andere lieber in Schwarz. Jedoch; um es mit Jack Sparrow zu sagen: „Aber ihr habt von mir gehört!“ Und das ist es, worauf es ankommt: Das Haus ist da.
Zwei Leute sollten sich darüber einig sein, ob sie denn nun verheiratet sind oder nicht. Sonst hätten sie ein echtes Problem.
Das meine ich mit signifikant.
Was ganz anderes: Gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, dass sanitäre Anlagen in Szenevierteln, unabhängig von der Location, aussehen müssen, als würden sie noch auf den Endausbau warten? Geht es um Lokalkolorit? Quartierserhaltung? Sind offen liegende Versorgungsleitungen und der Sprung in der Schüssel womöglich ein Fetisch, der gegen Gentifizierung (das neue Wort für Yuppiesierung, seit keiner mehr weiß, was ein Yuppie ist) hilft, wie Knoblauch und Kreuze gegen den Vampir? Oder liegt es daran, dass dem Wirt durch Erfahrung klar ist, dass seine Gäste die Nassräume im Handumdrehen wieder in den Urzustand versetzen können? Als Mann kann man ja das Meiste ohne direkten Kontakt zu den Installationen erledigen, aber für die Damenwelt ist das doch eine Zumutung! Mich führte unlängst ein Wiegenfest wieder in so eine Vorher-Installation. Ich fühlte mich sofort heimisch, weil es seit 30 Jahren immer ähnlich aussieht.
Später hat man mir berichtet, dass der Gastgeber morgens um vier von drei Mann nach Hause geschleppt wurde, nicht ohne auf dem Weg ein halbes Pfund Meeresfrüchte (plus die letzten fünf Bier; Fisch will schwimmen!) in den Park gespuckt zu haben. Und dabei hat er sogar noch den Rosenstrauß für die Frau Gemahlin gehalten. Ein schönes Bild am Ende eines gelungenen Abends.

Dein verdächtiger
Robert
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Ja, mein lieber Robert,
es heißt wohl nicht umsonst, dass ein Fest nur gelungen ist, wenn man geheult, gekotzt, anderweitig über dem Klo gehangen oder sich geprügelt hat. Das sind bleibende Erinnerungen mit bisweilen bleibenden Schäden. Zumindest kann man sich nachher nicht vorwerfen, man wäre nicht bis an seine Grenzen gegangen oder hätte was ausgelassen.
Ob man nun joggen geht, sich im Park übergibt oder Herzschmerz hat – heutzutage wird nahezu alles in Netzwerken rumposaunt, nach dem Motto „Teile deine Erlebnisse mit 501 deiner engsten Freunde“. Ich stelle mir vor, wie besagter Gastgeber gegen 4.15 Uhr den Satz „Grad im Park gekotzt“ (mit vielen J J J versehen) in sein iPhone getippt hat, um es der ganzen Welt mitzuteilen. Vielleicht ist er aber auch zu Hause angezogen aufs Bett gekippt und eingeschlafen (den Rosenstrauß noch in der Hand haltend).
Toiletten. Hm. Vielleicht liegt es einfach daran, dass Viertel, die ohnehin leicht herunter gekommen und anrüchig sind, gern als „Szeneviertel“ bezeichnet werden, um sie aufzuwerten und somit zahlungskräftiges Publikum anzulocken. Das würde heißen, die Klos sehen von vornherein so schlimm aus. Und obendrein lohnt es sich nicht, viel zu investieren, weil man nicht im Klo speist und daher nur „die gute Stube“ ansprechend aussehen muss. Ich weiß es nicht. Mir sind in der letzten Zeit recht unterschiedliche sanitäre Anlagen zu Augen gekommen.
Ein Freund von mir hat ein Modegeschäft (in einem sogenannten Szeneviertel), und das WC ist in einem feuchten, muffigen, gruftgleichen und klitzekleinen Kriechkeller untergebracht, in dem man sich kaum umdrehen kann, um zu tun, was man eben so tun muss. Es gibt keinen Putz und keine Farbe an den Wänden und keinen Belag auf dem Fußboden, nur Schotter. Aber es ist sauber!
In einer Filiale von Datt Backhus fand ich neulich die Toilette nicht, weil sie IN der Wand versteckt ist. Man zieht an einem kaum sichtbaren Griff in der holzvertäfelten Wand und betritt einen winzig kleinen Schrank. Sowas sieht man sonst nur in Filmen, wenn jemand das Bücherregal wegzieht, um einen Geheimgang freizulegen, oder in Comics, zum Beispiel bei Daniel Düsentrieb, der in sein Geheimlaboratorium über einen im Kleiderschrank befindlichen Fahrstuhl gelangt. In diesem Kloschrank in der Wand nun befindet sich jeweils eine Schüssel für die Damen und eine für die Herren. Mit Mühe kann man hinter sich die Tür schließen; aber genau das muss die Dame auch, weil sonst kein Herr mehr den Wandschrank betreten kann.
Das Gegenteil fand ich vor in einem Luxushotel mit Seeblick an der Ostsee: Große geschmackvoll geflieste Räume, goldene Wasserhähne, echte flauschige Handtücher, edle Seifen und Lotionen, Blumen und Musik. Luxus wie er sich eben für ein Luxushotel gehört. Ein stilles Örtchen, das zum Verweilen einlädt, wenn man den Seeblick nicht zu schätzen weiß oder einen nörgelnden Ehepartner an seiner Seite hat und mal Ruhe braucht. Meine Handtasche war nach dem Klobesuch noch schwerer als sowieso. Hätte ich ein internetfähiges Handy dabei gehabt, hätte ich vielleicht „War grad auf einem tollen Klo!“ in meinem Netzwerk unter Statusmeldungen gepostet.
Ja, Reisen bildet, man kann aufs Meer schauen, auf Berge oder durch Wald und Heide laufen, je nachdem, und Menschen und Kultur näher kennen lernen. „Reisender“ klingt natürlich viel kultivierter und intelligenter als „Tourist“. Wer möchte schon ein Tourist sein? Touristen sind immer die anderen. Die, die sich nicht benehmen können. Man selbst ist ein Reisender. Immer auf der Suche nach Kunst, Kultur und Erkenntnis.

Meine Oma sagte immer: "Wenn einer eine Reise tut, kann er viel erzählen."
Oder sich erzählen lassen. Zum Beispiel in Kneipen.
Möchte man mehr über die ortsansässige Bevölkerung erfahren, lohnt es sich immer, die Wirtshäuser zu besuchen, in die auch die Einheimischen gehen. Auf diesem Wege erfährt ja auch der Reisende in Vampirfilmen von der einsamen Existenz des dunklen Grafen in der Burg auf dem Berg. Heutzutage säße dort der Blutsüchtige nach einem Treffen bei den AV (Anonyme Vampire) in seinem modern gestylten Büro und würde entnervt durch die Online-Shops surfen auf der Suche nach Blutbeutel-Nachschub für seinen riesigen Edelstahl-Kühlschrank. Bei seinem letzten Besuch in der Großstadt - in Bukarest gab es vermutlich nichts, also musste er nach Budapest - reiste er in Gestalt einer Fledermaus, um sich einen Prepaid-Online-Stick zu kaufen, um endlich wireless online sein zu können (der Berg ist nicht ans örtliche Kabel angeschlossen, zu hoch), und Statusmeldungen zu posten, wie "Bin im Studierzimmer und schreibe am 3.870. Band meines Tagebuchs" mit Link zu www.meinewigesleben.com. Den Stick hatte er übrigens in einem extra für die Fledermausgestalt selbst genähten Rucksack transportiert, falls es dich interessiert.
Im Schwedischen heißt "die tödliche Fledermaus" übrigens "den dödliga Fladdermus"! Stell dir DAS mal auf einem Horrorfilm-Plakat vor! Das reißt doch keine Sau vom Hocker! Also wirklich...
Doch zurück zum Wirtshaus im Vampirfilm („DRACULA – den dödliga Fladdermus!“); eine wichtige Location, nicht nur um Reisende zu erschrecken und tonnenweise Knoblauch in Szene zu setzen, denn manchmal wird schließlich gar der Wirt selbst zum Vampir (siehe „Tanz der Vampire“. Yoyneh Shagal, der verwandelte Gastwirt, muss sich dort aber ganz schön nach der Decke strecken, denn Graf von Krolock hat was gegen Vampire aus dem einfachen Volk, und deshalb darf Yoyneh nicht in der Gruft schlafen).
Wenn es um fremde Sprachen geht, nicht nur in Transsylvanien oder an anderen finsteren Orten (die Toiletten in Transsylvanien sind die Schlimmsten – mein Mann war mal in Rumänien auf Reisen und konnte 8 Tage lang nicht aufs Klo, nachdem er gesehen hatte, wie es dort aussieht), gerät man auch sehr schnell mal an seine Grenzen (Stichwort „Grenzen austesten, wie oben“).
In einer französischen Bar, in Paris war es, versuchte mir mal die Mademoiselle, keine verheiratete Madame, schon gar nicht glücklich verheiratet, die auf dem Hocker neben mir am Tresen saß, ihr Liebesleid zu klagen. Die Frau war aufgelöst und angetrunken, und weil ich ein paar eingängige Phrasen auf französisch gedroschen hatte, um mir selbst was zu beweisen, dachte sie wohl, ich sei der Sprache mächtig genug, um ein quasi therapeutisches Gespräch zu führen. Sie irrte sich. Entsprechend unfähig war ich, gute Ratschläge zu geben, aber das schien sie nicht zu stören, solange ich zuhörte, nickte und ab und an ein „Encore un verre?“ (noch ein Glas?) einwarf. Am Ende des Abends hat sie dann noch mein hervorragendes Französisch gelobt! Merke: Man muss nicht viel sagen, wenn andere reden und die Musik laut genug ist.
In einer dänischen Hafenkneipe erklärte mir einmal ein Fischer, dass er hin und wieder nach Texas reisen würde, um Whitetails zu jagen. Wir sprachen Englisch miteinander, weil er kein Deutsch konnte und ich kein Dänisch. Dänisch ist ja eine verdammt schwere Sprache, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, kann der Deutsche doch das Geschriebene noch ganz gut verstehen. Die Aussprache entbehrt meiner Ansicht nach jedoch jeder Logik. Naja, nachdem ich also in meinem leicht angesäuselten Zustand (er bestellte das Bier schneller als ich es trinken konnte) nicht recht verstanden hatte, um was es sich dabei handelte, erklärte er mir umständlich, dass es sich um eine Art Hirsch mit weißem Schwanz handle. Um Letzeren darzustellen, wedelte er mit einem ausgestreckten Arm durch die rauchige Luft (damals durfte man noch überall ungehemmt rauchen, wovon er, der gerade einen Herzinfarkt überstanden hatte, reichlich Gebrauch machte). Was er meinte, ich an dem Abend aber nicht mehr kapierte, waren Weißschwanzgnus. Ich war als erste Reaktion entsetzt darüber, dass er niedliche Tiere (egal, was für welche) abknallt und brachte mein Entsetzen auch zum Ausdruck. Nein, so schlimm sei das nicht, verteidigte er sich, er würde schließlich eine Lizenz kaufen müssen, für 2.000 US-Dollar pro Anschuss, was ja kein Pappenstiel sei, und es gäbe eine ordentlich von der amerikanischen Regierung überprüfte Jagdquote für Touristen (nicht Reisende). Vor meinem geistigen Auge erschien das Bild seines Wohnzimmers, vollgestopft mit abgetrennten Hirsch-Köpfen und plüschigen weißen Schwänzen.
Allerdings wollte ich auf etwas anderes hinaus:
Mir fiel auf, dass man im Englischen unterscheidet zwischen Tail und Cock. Was für einen Sinn macht dann die Zusammensetzung beider Worte zu „Cocktail“? Mal im Ernst! Ein Schwanz-Schwanz zur Abrundung des Feierabends? Direkt seltsam.
Und es soll doch tatsächlich Leute geben, die Lance Woodcock heißen, und noch nicht im Boden versunken sind vor Scham. Natürlich kann man so einen Namen auch bewusst wählen. Wenn man Pornodarsteller ist.
Andere Leute nennen sich selbst „Batcave“ (Fladdermus!). Ein neuer Ausdruck für einen Stil oder Leute innerhalb der Gothic-Szene, die „Oldschool“-Musik mögen. Warum Punk auf einmal „Oldschool“ heißt und nicht einfach Punk, leuchtet mir nicht ein. Warum nicht gleich „Oldie“? Das wäre wenigstens ehrlich. Ist aber wohl nicht cool genug. Alles muss immerzu neue Stempel aufgedrückt bekommen, während sich tatsächlich wenig ändert. Wie du schreibst: Junge Leute denken, vor ihnen hätte noch niemand so gefühlt wie sie. Und junge Leute sind immer voller Ideale, wollen rebellieren und sich für Veränderungen einsetzen, auch wenn die Mittel fragwürdig sind. Wenn man älter wird, mag man immer noch Ideale haben, sicher, aber man hat auch gelernt, seine Energien lieber darauf zu verwenden, realistischere und individualistische Ziele zu verfolgen; ganz einfach, weil man nicht mehr über die grenzenlose Energie der Jugend verfügt.
Und es gibt sie noch, punx not dead!, die Leute, die irgendwo in einer Zeitschleife hängen geblieben sind, oder vielmehr in einem Klischee – als der ewig gegen Mülltonnen tretende Punk, der gegen das Establishment stänkert. Vielleicht hat er auch einfach nur zu viel Zeit und keine anderen Hobbies. Wer weiß. Saufen und Rumpöbeln (Pöbeln aufgrund von Rum…) kann ja auch eine kurzweilige Freizeitbeschäftigung sein, sehr „oldschool“ allemal, denn so haben sich ganze Generationen vergnügt. Schlimm nur, wenn man über nichts anderes mehr als über das „verschissene System“ reden kann. Das nervt dann. Ich finde, meckern kann man über so viel mehr Dinge… Und man KANN sich aufregen, ist aber nicht dazu gezwungen. Denn was nützt es, sich aufzuregen und gegen eine Mülltonne zu treten?
Ist dir übrigens schon mal aufgefallen, dass man die Buchstaben in dem Wort Bundeskanzlerin auch zu „Bankzinsenluder“ zusammen setzen kann?
Ich habe mal nach „Chaträume für garantiert echte Vampire“ bei Google gesucht und bekam 969 Treffer! Auf einer Seite kann man sich in den Chatraum „Höllenpforte“ einklinken, um mit Gleichgesinnten zu sprechen, und es gibt auch die Seite www.echtevampire.com, auf der man einen Test machen kann, ob man ein echter Vampir ist (für den Fall, dass einem das noch nicht aufgefallen ist). Der Test kostet auch nur 2,99 Euro und kann auf dem Handy gemacht werden, mit dem man dann hinterher „HURRA, ich bin wirklich ein Vampir!“ ins Netzwerk posten kann.
Nein, mal im Ernst – denkst du, dass echte Vampire nicht ihre eigenen, speziellen Methoden haben, unter sich zu bleiben? Weltumspannende Telepathie oder eine geheime Tages- ähm Nachtzeitung? Die „Blutpost“?
Ich hatte ja mal eine Hexen-Zeitschrift abonniert, die „Witch Weekly“ oder so ähnlich, hatte ich das schon mal erzählt? Sorry, falls ich mich wiederhole, ich werde langsam zerstreut. Eines Tages jedenfalls lieferte der Verlag nicht mehr. Vermutlich nur noch in die Anderswelt. Die Redaktion war auch verschwunden. Schade, es gab immer tolle Zaubertipps, auch eine Hotline für schlimme Zauberunfälle (man ahnt ja gar nicht, wie häufig es vorkommt, dass sich jemand ververzaubert beziehungsweise selbst verhext!). Auch Lyrik gab es; es ging regelmäßig um zauberhafte Tänze im Mondenschein und all die wunderbaren Geschöpfe und Schöpfungen der Mutter Göttin. Auf Dauer ist sowas so langweilig wie das Thema ewige Liebe. Aber nicht halb so komisch.
Viele Grüße von deiner Hexe
Vida
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Meine liebe Vida!

Anthropologische Studien an besoffenen Einheimischen; ja, das muss einen Heidenspaß machen! Gut, dass es nicht England war. Ich reise ja nicht gern so weit weg. Leute stecken im Internet Fähnchen auf die Weltkarte, um sich und andere damit zu beeindrucken, wo sie schon überall waren (muss ja nicht alles stimmen). Als ich meine zusammen hatte, war die Anzahl schon beeindruckend, aber nicht mehr als ein roter Klecks in Zentraleuropa. Hab ich was verpasst?
Ein Freund von mir hat da mehr vorzuweisen: Da reichen die Punkte von Singapur über Dubai bis Denver, Colorado. Ist dir mal aufgefallen, dass es immer „Denver, Colorado“ heißt und nie einfach Denver? Würde die Stadt sonst unauffindbar werden? So wie zum Beispiel Oberhausen? Was genau der Mann an diesen Orten tat, konnte er mir jedoch nie so recht erklären. Vielleicht fliegt er nur so herum, um sich ein cooles Image zu verschaffen.
Er erzählt mir dann, in einem super gelangweilten Tonfall, dass man sich die große weite Welt oft schöner vorstelle als sie tatsächlich ist. „San Francisco?“, fragt er, „einfach nur langweilig. Schlimmer als Frankfurt. Anaheim? Eine Kongresshalle für 6.000 Personen. Las Vegas bei Tag ist wie St. Pauli bei Tag. Nur die Nutten sind teurer und verteilen Visitenkarten. Colorado ist schön anzusehen, abgesehen von Denver, Colorado. In Dubai sind immer 40 Grad ohne Schatten, dafür wird Tag und Nacht gebaut...“ Tja, der Mann mag wichtig sein, klingt aber frustriert.
Ich könnte was von ostdeutschen Schlosshotels erzählen (Toiletten in allen Formen und Farben), aber das will natürlich keiner hören. Zwei meiner Fähnchen stehen auch in Dänemark. 50 Meter von der Küste weg. Das war Bedingung. Woran denke ich zuerst, wenn ich an Dänemark denke? Ein Phänomen! Direkt hinter der Grenze scheint der gesamte Straßenverkehr zu verschwinden. Dänische Autobahnen sind wie deutsche Autobahnen, aber leer! Eben noch die ganze rechte Spur voller Schwerverkehr und nun... nichts mehr. Stille. Keine Menschen. Die sind vermutlich alle in Kopenhagen. Das erinnerte mich beinahe an den Grenzübertritt in die DDR. Die Geräusche der normalen Welt blieben hinterm Zaun zurück. Dafür roch es stark nach Kohlsuppe und Braunkohle.
In Dänemark sah ich Unmengen von Brennholz. Ich glaube, keine Feuerstelle der Welt verbrennt Holz in einer derartigen Geschwindigkeit wie der durchschnittliche dänische Ferienhausofen.
Und schließlich die Dünen. Die sind irgendwie überall. Egal, wo man hingeht, die Düne ist schon da. Wenn man nicht über ein Mindestmaß an Geländegängigkeit verfügt, kann das zum Problem werden, denn das Ding ist gerne mal acht Meter hoch und entsprechend steil. Manch einer stellt sich da an wie eine Schildkröte bei der Eiablage.
Dahinter ist dann aber auch gleich das Meer. Und der Strand. Der Strand zieht sich ja, wie die Düne, einmal von unten bis oben und sieht, wie die Düne, überall gleich aus. Frauen sind ganz wild darauf, endlos am Strand entlangzulaufen. Ich verstehe das nicht: Der zweite Kilometer sieht aus wie der erste und der dritte und alle weiteren, und der Rückweg ist noch schlimmer, denn dann weiß man ja schon, was einen erwartet. Und wieder sieht man kaum Menschen. Der Strand ist meist leer wie eine dänische Autobahn oder eine Ferienhaussiedlung in der Nachsaison.
Wie rechnet sich so ein Häuschen, fragte ich mich immer wieder. Einige sahen tatsächlich so aus, als würde man nur darauf warten, dass sie langsam im Sand versinken. Dann würde wahrscheinlich jemand kommen und eine neue Lage Ferienhäuser darüber streuen, und alles fängt von vorne an.
Durch mehrtägige Sonneneinstrahlung, Rotwein, Grillfleisch, Strandspaziergänge, Whirlpoolsitzen und noch mehr Rotwein werden die meisten irgendwann sehr gelassen.slap tilstand“ nennt das der Däne, glaube ich, „angenehme Erschlaffung“. Um mich aus diesem Zustand zu befreien, beschloss ich als einziger, ein kaltes Erfrischungsbad zu nehmen. Erwähnte ich, dass es bereits Oktober war und die Nordsee fast wie das Polarmeer? Immerhin ersparte mir der leere Strand einen peinlichen Auftritt vor Publikum: Mein Rückzug aus der Brandung, der einem Beobachter vielleicht eine Spur zu hektisch vorgekommen wäre, und die Entdeckung, dass meine Hose in der Brandung nicht als Badehose taugte. Im nassen Zustand wurde sie nicht nur sehr körperbetont, sondern verlor mit der Blickdichte auch eine weitere entscheidende Eigenschaft; sie drohte zu rutschen, aber zum Glück wäre dank der Wassertemperatur die Peinlichkeit nur halb so groß gewesen. Also doch wieder „slap tilstand“.

Nicht sehr gelassen war dagegen unser Vegetarier. Ich habe ehrlich gesagt nicht viel über für Vegetarier. Die meisten wirken unfroh und ein bisschen verkrampft. Das könnte man verstehen, denn es geht ja um die Rettung der Welt, und das ist harte Arbeit, aber ich denke, die machen das nur, um sich für bessere Menschen halten zu können. Seht her, ich bin nicht mehr Teil des Problems! Ich bin vielleicht ein Arsch oder eine Zicke, aber ich bin zivilisierter als ihr, denn ich esse nur noch Gras.“
Vielleicht lag es auch daran, dass dieser Typ von Natur aus ein Stockfisch ist. Täglich saß er beleidigt in seiner Ecke und nervte schon morgens, indem er die mitgebrachten Nahrungsmitteln pries, Sojamilch und verschiedenfarbiger Schlamm in Gläsern, laut Aufdruck vegetarische Brotaufstriche, denn Wurst, Fisch und was wir Höhlenmenschen sonst so aßen, durfte er ja nicht. Dazu Vorträge über die unmenschlichen Zustände in dänischen Nerzfarmen...
Einmal bin ich nachts aufgestanden und habe echte Milch in seine Sojamilch gekippt. Hähä. Hat er nicht gemerkt. Abends verdarb er uns dann den Appetit mit seinen Extrawürsten, Soja mit Wurstaroma, die genau so schmeckten wie sie schrecklich aussahen. Mir ging das Bild von benutzten Kondomen nicht aus dem Kopf... Leider war er bei der zweiten Reise nach Dänemark nicht mehr dabei. Und ich wollte doch extra Nerz auf den Grill legen.
Wenn das die Zukunft ist, dann gute Nacht. Ich möchte mich nicht so ernähren müssen. In Zentralafrika zum Beispiel ernährt man sich natürlich und isst den getrockneten Schimpansen direkt vom Baum, aber man kann nicht wissen, in welcher Aids-Höhle der sich noch gestern herumgetrieben hat. Auch der Papua weiß nicht, ob der Feind, den er grad verspeist, nicht am Ende Creutzfeld-Jacob hatte. In Papua gibt es keine Lebensmittelkontrolle. Dafür ist alles naturbelassen und unbehandelt.
So wie FRÜHER, in der guten alten Zeit, als alle Tiere noch glücklich waren und die Milch noch direkt von der Kuh in die Großstadt floss. Welche Zeit ist da gemeint? Jedenfalls keine, an die sich irgendwer noch erinnern kann. Schon meine Großeltern hatten einen Kühlschrank.
Früher wurde die Milch mit Wasser gestreckt, wenn man Glück hatte, mit sauberem, und Kinder gingen an Unterernährung oder Infektionen zugrunde. In unseren Landen wurde darum für die erwachsene Bevölkerung und die Kinder, die wider Erwarten ihr Säuglingsalter überlebt hatten, in vielen, vielen Kesseln Bier gekocht, weil dem Wasser nicht zu trauen war. Das Reinheitsgebot wurde erfunden und erlassen, damit nicht alles Mögliche hineinkam und die Leute vergiftete. Wer es sich leisten konnte, trank Wein, doch auch der war zuweilen von Seiten des Winzers speziell „behandelt“. Wenn man sich das so alles überlegt, dann muss die Menschheit das ganze Mittelalter hindurch ständig besoffen gewesen sein.
Ins Brot kam alles, was farblich zum Teig passte. Sägemehl war noch harmlos. (Aber alles rein pflanzlich!) 1919 gab es in Hamburg die Sülzeunruhen. Da fällt mir sofort das Fernsehen ein, aber es ging tatsächlich um Sülze. Weil grad Mangel herrschte, hatte man bei der Herstellung auch Tieren, die eigentlich nicht als Fleischlieferant gedacht und auch nicht mehr frisch waren, dafür aber in größerer Menge zur Verfügung standen, eine Chance gegeben. Allerdings ohne die Käufer darüber zu informieren. Die fanden das schließlich raus und nicht gut und machten ihrem Unmut über mehrere Tage lang mit Aufständen Luft, bis das Militär einschritt. Und das passierte wohl bemerkt nicht in der Dritten Welt, sondern im 20. Jahrhundert in Mitteleuropa.
Ich habe noch ein Kochbuch von meiner Mutter in der Küche, in dem steht, wie man Fleisch, das seine beste Zeit hinter sich hat, wieder genießbar bekommt. Manchmal blättere ich beim Kochen darin und staune. Zusammengefasst: Nahrungsmittel waren früher vor allem eins; nicht in ausreichender Menge vorhanden.

Zeitschleifen… Manche Leute suchen eben eine Bühne, um anderen ihre Erkenntnisse aufzudrängen. Neulich erklärte mir einer, das 21. Jahrhundert wäre die Zeit der Scheiße. „Ach“, sagte ich und fragte wieso. Ja, alles nur Mist, erklärte er, nichts wäre mehr echt, nur noch Oberfläche, kein Inhalt oder Tiefgang, keine Menschen mehr, nur noch Avatare, und immer ginge es nur um Geld, kurzum: „ Ich lebe in einer Welt aus Scheiße!“
Was fällt einem dazu noch ein?
„Gib dem Jahrhundert eine Chance! Es ist noch jung“, meinte ich, aber es war zu ermüdend, sich auf eine weitere unnütze Diskussion einzulassen mit Leuten, die erst zwei Jahrzehnte gelebt haben, aber glauben, schon alles gesehen zu haben. Wenn ich mich recht entsinne, und ich entsinne mich recht, habe ich ähnliche sogenannte gesellschaftskritische Äußerungen schon 1980, 1990 und 2000 gehört, und irgendwie ging es doch immer weiter. Weil es immer weiter geht, bis es eben nicht weiter geht. Und wenn man ein bisschen graben würde, fände man bestimmt auch einen Text von 1910 oder 1810 oder 1710 oder von den alten Griechen, der dasselbe sagen will. Auch damals war immer schon alles schlecht und musste eingerissen und umgeschmissen werden, aber irgendwann hatte man seinen Philosophenschein in der Tasche und sah die Dinge pragmatischer, weil man sich um reale Dinge zu kümmern hatte.
Irgendwie bin ich aber trotzdem stets fasziniert von solchen Querulanten und neugierig und gespannt, was sie als nächstes zum Besten geben, vielleicht sogar mal einen brauchbaren Gedanken, doch da warte ich meist vergebens. Über die Jahre hab ich mir auf diese Weise den Ruf eines guten Zuhörers eingehandelt. Gelegentlich streue ich Worte, wie „interessant“ oder „außergewöhnlich“ oder „beeindruckend“ ein, was für mich selbst heißt: „außergewöhnlicher Schwachsinn“ usw. Ich bin dann die nickende Polizistenattrappe aus „Louis und die Kohlköpfe“.

Schon in der Schule hab ich mich gefragt, woher unsere linksgedrehten Schülervertretungen die Themen nahmen, über die sie sich wortreich aufregten. „Engagieren“ war eins der Schlagwörter. Und immer für oder gegen etwas, was auf anderen Kontinenten vor sich ging.
Sich mit den angeblich oder wirklich unterdrückten Rosinenpflückern von Burro Muerto zu solidarisieren, war viel spannender und auch politisch korrekter („bewusster“ hieß es damals), als sich mit den Niederungen des Alltags zu befassen. Und nicht zu vergessen: Es war auch völlig risiko- und folgenlos! Sich ganz konkret mit der Schulleitung anzulegen, soviel revolutionärer Elan war nur den wenigsten gegeben.
Und auch heute noch wird bevorzugt da protestiert und demonstriert, wo es erlaubt ist. Statt der Gesellschaft („Deutschland zu Fall bringen!“ - Stüermann, lot mi an Land!) wird die Mülltonne vor der Roten Flora umgeschmissen. Vielleicht sogar von Schülervertretern in Autonomen-Outfits. Es gibt Zustände auf der Welt, die nach echtem Protest schreien, aber, wie ein prominenter Literaturkritiker bemerkte: „Dort könnte es passieren, dass einem die Behörden nicht nur das Rasierzeug, sondern gleich den ganzen Kopf abnehmen!“ Und Protest mit echtem Risiko und ohne ausreichende Aufmerksamkeit der Medien? Wie soll das gehen?

Zum guten Schluss der Cock und der Tail. Der Engländer hat es da eben einfacher. Und er ist in der Lage, zu differenzieren. Obwohl ich mir auch im Deutschen nur schwer eine Situation vorstellen kann, in der jemand sagt: „Fass mir nicht an den Schwanz!“ und ein anderer sich fragt: „Welchen meint er denn nun?“ Immerhin haben wir die Worte „Rute“ und „Schweif“ („Fass mir nicht an die Rute!“). Aber Cocktail? Schwanzschweif. Nun, der Engländer halt. Vielleicht liegt es an der Insellage, wer weiß.

Dein Oldschool-Robert (Allesfresser in der 20.000. Generation)
***
Lieber Robert,
nun ist es schon wieder Sommer, eben war noch Weihnachten, wie kommt das bloß immer? Wo ist der Zeitfresser, der mir die ganze Zeit klaut? Dem würd ich gern mal was erzählen! Jedenfalls ist der Sommer SCHON WIEDER eindeutig zu heiß. Warum muss immer alles so extrem sein? Drei Monate Eis und Schnee und jetzt dieses brutale Hitze, nur unterbrochen von kurzen heftigen Unwettern. Erst rutscht man aus, und nun fällt man einfach um, weil der Kreislauf versagt. In jedem Fall landet man auf dem Boden. Doch wer immer mich auf die Bretter schickt, sollte beten, dass ich unten bleibe, heißt es ja im Boxsport. Neulich las ich: „Die Erde findet ihr Ende in Feuer oder Eis.“ Dabei musste ich an das Wetter denken. Und an Game of Thrones.
Ich verbringe meine Tage nun überwiegend unter der kalten Dusche oder im verdunkelten Zimmer mit einem Eisbeutel auf dem Kopf. Da hat man viel Zeit zum Nachdenken, was nicht unbedingt vorteilhaft ist, denn Denken mag ja schön und gut sein, schadet aber oft dem Wohlbefinden, zumindest, wenn einem solch schwarze Gedanken kommen wie mir. Morgens ist es besonders schlimm; noch vor dem ersten Kaffee überlege ich mir, wie ich wohl die nächsten vierzig Jahre finanzieren soll, wenn man davon ausgeht, dass ich noch so lange lebe, und da kann man sich ja gewaltig verrechnen, wobei ich nicht weiß, was nun besser ist: früher sterben und keine Geldsorgen haben oder lange leben in Armut.
Mir wird also regelmäßig Angst und Bange, verständlich bei dem Thema, und ich wälze mich unter meinem nassen Handtuch, dass ich dieser Tage als Bettdecke benutze, hin und her, wohl ahnend, dass man einen Zeitraum von vierzig Jahren unmöglich überschauen, abschätzen oder absichern kann – schon gar nicht vor dem ersten Kaffee. Die Panik treibt mich also aus dem Bett, bloß nicht weiterdenken, den Kopf unter kaltes Wasser halten und heißes Wasser über den Kaffee im Filter kippen. Wenn man die erste Tasse getrunken und eine Zigarette dazu geraucht hat, ist man im Grunde nicht weiter als zuvor, und wenn man sich nicht augenblicklich eine Beschäftigung sucht, beginnt das Gedanken-Karussell sich erneut erbarmungslos zu drehen. Besser ist da der Abend, da hat man die Möglichkeit Alkohol zu trinken und auf völlig natürliche Weise auf andere Gedanken zu kommen. Dennoch muss die Zeit zwischen dem Morgen und dem Abend mit sinnvollen Tätigkeiten gefüllt werden. Also wieder unter die Dusche, noch einen Kaffee, ein Baguette mit Käse, eine weitere Zigarette, ins Atelier hinüber gehen, auf eine Leinwand glotzen, überlegen, was noch hinzugefügt oder weggelassen werden muss, denn das ist ja das Wesen der Schöpfung, der Evolution und jeder Kreativität: zerstören und wieder aufbauen, immer schön im Wechsel, bis das Ergebnis stimmt, und auch das ist nie endgültig und für die Ewigkeit, wie soll es auch, nur der Tod ist ewig. Der Tod: Eine unendliche Zeit ohne Geldsorgen. Dafür kann man sich dann nicht mehr darüber freuen. Irgendwas ist immer. Der Vampir hat durch kluge Investitionen wahrscheinlich viel Geld, braucht aber Blut. Immer Generve.
Also noch eine Zigarette und wieder auf die Leinwand glotzen, eine Handvoll Farbe verteilen, zurücktreten, die Stirn runzeln, unzufrieden sein, noch mehr Farbe, viel Schwarz, aber auch viel Weiß, das ergibt eine dramatische Stimmung, und Komplementär-Kontraste befriedigen das Auge des Betrachters, sagte mein Professor für Malerei einst, aber ist das dann auch Kunst? Soll Kunst überhaupt befriedigen? Zur Dekoration verkommen? Man will doch auch etwas ausdrücken, die Farben sinnvoll komponieren. Das heißt wieder Abstand gewinnen, das Bild aus der Ferne betrachten, versuchen, eine Bildidee zu finden, auch wenn es eine abstrakte ist, Farbfläche an Farbfläche, nicht zu viel Schwarz, das ist zu düster, mehr Blau, mehr Weiß, alles verschmelzen, mein Arm tut weh, ich muss eine Pause machen und sowieso muss die Farbe erstmal trocknen, damit später die nächste Schicht darüber kann und nicht alles zu einem grauen Brei verschmiert. Hände waschen. Ratlosigkeit. In die Küche gehen und gucken, ob man was zum Abwaschen findet. Nein, alles erledigt.
Um bloß nicht nachdenken zu müssen den PC hochfahren. Noch einen Kaffee trinken und Worte gugeln, die einem suspekt vorkommen, wie „Cocktail“. 48.900.000 Einträge, Rezepte und Bilder. Das erklärt wenig. Eine sorgfältigere Suche ist erfolgreich:
"Die am meisten verbreitete Anekdote unter Barkeepern ist die vom Hahnenkampf: Die Einwohner im Süden der USA führten vor etwa 150 Jahren zu ihrem Vergnügen Hahnenkämpfe durch. Nach der Entscheidung wurden dem unterlegenen Hahn die Schwanzfedern ausgerissen und dem Besitzer des Siegers übergeben. Der Sieg sowie die gewonnene Trophäe wurden dann mit einem Drink 'on the cock's tail' besiegelt. Später nannte man diesen Siegertrank nur noch Cocktail."
Eine andere Erklärung lautet: "Nordamerika im Jahre 1777: Das Land kämpft um die Unabhängigkeit von der britischen Krone. Betsy Flanagan, eine Kneipenwirtin in Neuengland, bewirtet bevorzugt Rebellen. Eines Abends mixt sie ein Getränk aus Fruchtsaft und Rum, das sie mit einer Feder dekoriert. Diese war vorher das Paradestücks des Hahns eines reichen Briten gewesen. Ein junger französischer Rebellenoffizier würdigt die Komposition mit den Worten 'Vive le coq's tail!'." 
Zwei Irrtümer aufgeklärt: Der Cocktail ist keine Erfindung der Briten (wie auch? Kamen jemals kulinarische Highlights von den Britischen Inseln?), und der Cock ist natürlich ein Hahn. Dass man Schniedel auch als Hahn bezeichnen kann, macht auf den ersten Blick für mich nicht unbedingt Sinn. Kräht der morgens? Vielleicht regt er sich, aber er macht es meistens lautlos. Es sei denn, man benutzt Hahn im Sinne von Wasserhahn. Ein Mitschüler in der Grundschule belustigte mal unsere Klasse mit dem Bekenntnis, er nenne sein Geschlechtsteil gerne „Wasserschlauch“. Oder „Piephahn“. Ha, da haben wir es! Andere Länder, andere Sitten, andere Worte – immer wieder hochinteressant!
Außerdem las ich dies: "Grundsätzlich gilt, dass ein Gentleman niemals zwei Cocktails nacheinander bestellt. Auch im Laufe eines Abends sollten nicht mehr als zwei Cocktails, zum Beispiel ein Pre-Dinner-Cocktail und ein After-Dinner-Cocktail, bestellt werden. Zum einen ist ein gut zubereiteter Cocktail mit hochwertigen Zutaten ein Getränk zum Genießen und entsprechend teuer. Zum anderen ist der Alkoholgehalt von Cocktails immer sehr hoch. Und genauso wenig, wie man seine Begleitung auf acht Glas Wein oder zehn Bier hintereinander einladen würde (Warum eigentlich nicht? Mein Mann würde mir acht Gläser Wein bestellen, wenn ich das wollen würde - Anmerkung Vida), bestellt man drei oder vier Cocktails bei einem Cocktailbarbesuch."
Es gibt aber doch Männer, wenn auch keine Gentlemen scheinbar, die mehr als 5 Cocktails nach einander bestellen, und die dann auch trinken. Eine „angenehme Erschlaffung“ lässt sich eben leicht auf diese Weise herstellen; ich erinnere mich da an einen Bekannten, der nach zu vielen Hochrufen auf den Hahnenschwanz schließlich zum Gespött der Jugend auf der Straße lag, weil er nicht mehr gehen konnte, so dass er mit dem Krankenwagen abtransportiert werden musste. Der Spaß hat ihn schlussendlich auch noch 500 Mark gekostet, aber was sollte man machen? Jemanden einfach liegen lassen? Damit er an seinem Erbrochenen erstickt, ihm das Portemonnaie geklaut wird und ausgelassene Teenager ihm das Haar verwuscheln? Ich denke, besagter Mann muss ebenso frustriert sein wie dein ewig nörgelnder herumreisender Freund; wer bitte findet denn San Francisco langweilig??? Ich glaube, da ist er so ziemlich der einzige. Oder er hat nie etwas von irgendeiner Stadt gesehen, in der er sich gerade befand, weil er lediglich in Sitzungssälen herumgehangen hat, die überall auf der Welt gleich öde aussehen? Ich finde daher, Meeting-Hopperei von Managern sollte nicht als Reise gelten. Und schon gar nicht als wichtig, obwohl diese Leute das anderen gerne weismachen. Drei Tage Mexiko, zwei Tage Cannes, anderthalb Tage San Diego. Und den Rest der Zeit im Flieger und auf Flughäfen verbringen, andere beschäftigte Manager vollquatschen, Umsätze nach oben korrigieren, Fast Food essen und zu viel saufen (aber immerhin die besten Weine!), Jetlag und Aufputschmittel, der ganze Stress, das kann nicht gesund sein, und so ein Leben macht einem früher oder später jedes Beziehungsleben kaputt. Dann muss man noch mehr saufen, um sich zu betäuben – und damit man nicht doch auf einmal auf die Idee kommt, dass das wichtige Leben doch nicht so toll verläuft wie man dachte, schließlich ist man von oberflächlichen Typen umgeben, von denen keiner in der Lage ist, eine ernsthafte Bindung aufzubauen, und dabei weiß man doch heutzutage, und das ist auch durch Studien belegt, dass nicht Geld allein glücklich macht (auf Dauer zumindest nicht), sondern Freundschaften und Liebe (und das nötige Kleingeld, um nicht zu verhungern).
So ein Managertyp beklagte sich einmal ernsthaft bei mir, wie wenig Rente er mal bekommen würde: „ NUR 9.000 Euro!“ Mir fiel das Kinn herunter und mein Fuß schnellte unterm Tisch mit Wucht an sein Schienbein. Ich sprang auf und brüllte: „Dass du es wagst, MIR das vorzujammern, schämst du dich nicht?“ So ziemlich alle Gäste des Lokals drehten sich zu mir um und schauten mir hinterher, als ich wutschnaubend zur Tür stürmte, nicht ohne vorher noch in einen der kleinen Brotkörbe zu greifen, um am nächsten Morgen ein Frühstück zu haben. Gut, der Typ hat vielleicht keine Ahnung gehabt, dass ich – wenn alles so weitergeht wie bisher – eine ungefähre Rente von 120 Euro erhalten werde, mit 67, falls ich dann noch lebe, aber immerhin muss er im Laufe vieler Jahre mitbekommen haben, dass es finanziell um mich nicht zum Besten steht. Nichtsdestotrotz habe ich ihm immerzu Dinge geschenkt, während er, wenn er mal was von mir kaufen wollte, Preise gedrückt und Rechnungen verschleppt hat. Damals hab ich mir geschworen, nie mehr für Millionäre zu spenden. Diese Manager-Gehälter sind sowieso eine einzige Schweinerei! Und statt dort mal 3 Mark fuffzich abzuknapsen, wird immer nur an denen gespart, die eh nichts mehr in der Tasche haben. Wer arm ist, muss früher sterben, aber immerhin kommen zu dessen Beerdigung dann ein paar Menschen, die ihn WIRKLICH mochten.
Frustrierte Typen gibt es eine ganze Menge, und oft gehöre ich dazu. Aus den verschiedensten Gründen. Ich denke jedoch, dass man nicht per se schlechte Laune dadurch bekommt, dass man Vegetarier ist und sie auch nicht verbreiten muss. „Ich ess Blumen, denn die Tiere tun mir leid“, sangen einst die Ärzte, und ich finde, das ist eine gute Einstellung. Mir tun die Tiere auch immer leid. Außer vielleicht die Affen. Die sind mir zu menschenähnlich. Besonders schlimm finde ich, in welchem Umfang der Mensch Tiere quält, verfolgt und abschlachtet. Massentierhaltung, weil das Fleisch billig sein soll, und dann wundert man sich, dass das Fleisch vergammelt ist oder statt Hühnchen Ratte verkauft wird. Schweinefleisch soll ja wie Menschenfleisch schmecken. Hab ich gehört. Aber das nur nebenbei. Das Schlimme ist ja, dass der Mensch heutzutage die technischen Möglichkeiten hat, mit gnadenloser Härte und Konsequenz die Lebewesen dieses Planeten abzumurksen oder wegzufischen, und auch wenn er eigens für Nahrungsbeschaffung nachzüchtet, läuft das alles suboptimal, weil ethisch bedenklich. Außerdem sind tierische Fette gesundheitsschädlich…
Jetzt einen Wein und noch eine Zigarette, warum auch nicht? Es wäre schön, alles vergessen zu können, abzuhauen, an den Strand zu gehen, den Möwen beim Kreischen zuzuhören. Meiner Erfahrung nach sind die dänischen Autobahnen und Strände eigentlich nur in der Nachsaison leer, das ist ja auch ein Grund, warum man eben in dieser Zeit hinfährt, und selbstredend auch deshalb, weil die Unterkünfte um einiges preiswerter sind. Natürlich kann man dann Pech mit dem Wetter haben und muss viel Feuerholz verbrennen, in warmen Wannen sitzen und noch mehr trinken als man eh würde. Aber ich mag den Regen. Warmen Regen besonders! Und wenn es regnet, werde ich endlich besser schlafen und weniger grübeln müssen.
Es grüßt dich herzlich deine Vida
***
Mein liebe Vida,

was soll man machen? Fleisch hat leider eine Kehrseite. Auch wenn man uns weismachen will, dass jedes Küken mit der Flasche hochgezogen wird, wissen wir, dass es so nicht funktioniert. Man hat sehr viel mehr Respekt vor seinem Essen, wenn man es selbst gefangen und getötet hat. (Sogar vor einer selbstgepflanzten Tomate. Sie schmeckt auch besser. Aber das nur am Rande.)
Ich kann mir das im großstädtischen Alltag aber nur schwer vorstellen. Ich habe keine Skrupel, einen Fisch totzumachen, doch wenn es beispielsweise um Karnickel geht, möchte ich doch gerne eine Instanz dazwischenschalten. Doch geht es dem Gemüse besser? Na-hain! Nur kann so eine Rübe (Runkel z.B.) weder Knopfaugen noch ein puscheliges Fell vorzeigen und hat deshalb auch keine Lobby...
(„Tierschützer befreien 50.000 Nerze“; Wie das wohl aufs Ökosystem wirkt?
Halb so wild: Die Nerze wissen nicht, wie man jagt und sind nach ein paar Tagen alle verhungert.)
Die Sauereien passieren, wenn Leute den Hals nicht voll kriegen können, es ganz schnell gehen muss und das Steak am besten schon abgehangen von der Kuh kommt. Bauern sind nicht zwingend bessere Menschen, nur weil sie auf dem Land wohnen. Frag mal die Alten, die können dir Geschichten davon erzählen. Wenn die Kuh eingeht, denkt der Bauer nicht an das arme Vieh, sondern an das Fleisch, das er nun wegschmeißen muss.
Und der Satz: „Die brauchen nichts zu wissen, die brauchen das nur zu fressen...“ kommt auch nicht von ungefähr.
Dass die Kunst nur hartes Brot serviert, und meistens ohne Aufstrich, hast du ja von Anfang an gewusst. Du hast es so gewollt, könnte einer sagen. Aber das ist natürlich Quatsch, denn es fällt einem ja nicht plötzlich ein, dass man ab sofort Künstler werden will. Irgendwann merkt man, dass man einer ist, und dann kann man nicht mehr raus... Das ist ein bisschen wie Schwulsein, glaube ich. Zumindest die Reaktion der Eltern ist wohl ähnlich: „Was? Du bist schwul? Aber lern doch bitte vorher was Richtiges!“ Künstler-Eltern würden vielleicht anders empfinden, über schwule Eltern weiß man noch nicht genug.
Ich denke auch nicht, dass Kunst etwas wollen muss oder wollen sollte. Der Betrachter merkt dann, dass er belehrt oder bekehrt werden soll, und das mag er nicht.
Ist Dummheit erblich? Oder sogar ansteckend? Und ist sie dann heilbar?
Manchmal tue ich Dinge, die ich sonst nicht tue, und das sogar freiwillig.
So begab es sich, dass ich einen unserer Musentempel aufsuchte, den ich vor langer Zeit und nur für mich selbst „Müllcontainer“ getauft hatte (von wegen Form und Inhalt), was aber nicht ganz fair war, denn zum einen sieht er bei näherer Betrachtung doch recht stattlich aus, und was drin ist, ja, das wollte ich nun herausfinden. Offiziell ging es um die Gegenüberstellung alter und neuer Werke und ihren Umgang mit bestimmten Themen. Der Verdacht, dass die einfach ein paar von den alten Schinken in den neuen Trakt gehängt haben, damit die endlich auch mal jemand anguckt, ließ sich jedoch nicht zum Schweigen bringen.
Jede Menge Quadrate. Weiße auf Weiß, Schwarze auf Schwarz. Bunte auf Bunt.
Das moderne Museum kommt offenbar ohne nicht aus. Ob die Museen Leute rumschicken und gucken, wie viele Quadrate die anderen haben? Wer weiß, was da alles dranhängt...
Sätze, wie „Das kann ich auch“ und „9. Klasse Kunstunterricht“, schleichen sich an und in mein Hirn, und so fliehe ich in den nächsten Raum. Das Thema dort ist „Die Nacht“, das moderne Werk setzt das um mit ein paar schwarzen Laken und einer Neonröhre. „Das kann ich auch!“, denke ich sofort, denn immerhin sah mein Zimmer ein paar Jahre lang genau so aus. Aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, es zur Kunst zu erklären. Womöglich noch mit mir drin... Und jetzt ist es eh zu spät. Die Idee hatten schon andere.
Warum macht das 200 Jahre alte Bild auf mich mehr Eindruck? Weil es 200 Jahre alt ist? Oder weil man eine Ahnung hat, dass es auch in 200 Jahren noch da hängt, die Laken aber nicht, und das nicht nur, weil dann die Neonröhre kaputt ist?
Das moderne Museum ist vor allem eines: leer. In der gigantischen Leere steht mal was, hängt mal was, lehnt was. Dort liegt ein Spiegel mit einem Loch auf dem Boden. Gehört der dahin? Lieber mal fragen. Ja, das gehört zur Ausstellung. Jetzt wissen alle, dass ich keine Ahnung hab.
In einem anderen quasi leeren Raum, gewidmet einem verstorbenen Malerfürsten der Moderne (mit dem ich natürlich nichts anfangen kann), steht ein alter Schemel in der Ecke. Eine Sitzgelegenheit also. Wie praktisch. Leute setzen sich ja gerne vor große Gemälde (er malte groß) und betrachten sie lange. Aber hier kann man nicht wissen: Vielleicht ist das auch Kunst? Und tatsächlich: Es ist Kunst! Ein frühes Werk des Meisters: Eine Maschine, die eine Rübe um eine andere Rübe dreht... (Runkel?) Falls man nicht von selber drauf kommt: Das Ding heißt tatsächlich so: „Eine Maschine, die eine Rübe um eine andere Rübe dreht“.
Was wollte uns der Künstler damit sagen? Wollte er sich über irgendetwas lustig machen? Ich weiß es nicht. Ich fürchte aber, nicht. Fragen kann man ihn nicht mehr. Was ich aber weiß, ist, dass es genau solche Dinge sind, die den Leuten Bauchschmerzen bereiten, wenn sie „Moderne Kunst“ hören. Leider funktionierte die Maschine nicht mehr, und es waren auch nicht mehr die Original-Rüben. (Moment: Wenn hier die Rüben erneuert werden, dann womöglich auch die kaputten Röhren? Was sollen die in 200 Jahren von uns denken?)
Zum Ausgang hin ist eine Nische, die den Eindruck macht, als wäre da das Geld alle gewesen, aber, Wunder über Wunder, auch hier versteckt sich Kunst: Dort tropft hinter Glas Wasser von der Decke, um nach 500 Jahren zwei hübsche Tropfsteine zu bilden. Ein ambitioniertes Projekt also! Und der Traum des Künstlers: Das Werk schafft sich selber! Er muss nicht anwesend sein. Nicht mal am Leben sein. Aber er braucht eine Menge Selbstvertrauen, um zu glauben, dass das Ding da solange steht. Das Wasser ist gegenwärtig auch abgestellt. Wahrscheinlich aus Kostengründen. Sie konnten sich vermutlich zwischen dem Wassertropfen und der Neon-Röhre entscheiden. Niemand hat dort „Das kann ich auch“ gesagt. Wer das – ernsthaft… von sich glaubt oder von seinen kleinen Monstern, die zu Hause Fingerfarben essen, verirrt sich wohl nicht dorthin. Es würde sich aber lohnen: Im Café gibt es prima Apfelkuchen!
Mal im Ernst: Könnte ich DAS auch?
Natürlich könnte ich das auch.
Aber dazu müsste ich erstmal auf solche Ideen kommen!
Und das wird nicht passieren.
Und das macht eben den Unterschied.
Vielleicht hättest du keine Künstlerin werden sollen, sondern eine KREATIVE, wie man das heute nennt. Bei der Bezeichnung „Künstler“ denken die Leute immer gleich an wirre Gestalten aus dem Hinterhaus, die Dinge produzieren, die keiner versteht. Aber ein
Kreativer… Als Kreativer bist du immer jung und vorne weg. Du kannst Skateboard fahren, vor portugiesischen Cafés herumsitzen und dir mit anderen Kreativen weiche Bälle im Kreis zuwerfen. Du kannst immer wichtige Projekte am Start haben, und wenn jemand mal Ergebnisse sehen will, drohst du damit, nach Berlin zu gehen. Da machen die Leute nicht so einen Druck. Problem ist natürlich die Altersgrenze von etwa 30. Danach sieht man auf einem Skateboard eher albern aus.

Scheint so, als sei ich kein Gentleman, denn ich lasse mich gerne mal auf zehn Bier einladen! Oder eben soviel, wie geht. Und Cocktails werden überschätzt. Ich weiß das, denn ich hatte mal eine Cocktailphase. Das fängt ja auch meistens ganz gut an: Obenrum mehr Obst, als mancher in der Woche isst, und hübsch bunt sind sie auch. Am zweiten Wochenende merkte ich dann, dass sie nicht nur alle irgendwie gleich schmecken, sondern dass es auch nur 4 Farben gibt, und die hatte ich alle durch. Da kann die Karte noch so dick und die Namen noch so lustig sein. Ich hatte es schnell satt, für ein bisschen geschnitten Obst und verwässerten Alkohol 9,50 zu bezahlen (Wofür man unter Umständen schon 10 Bier bekommt!). Wie ich 4 Cocktails ausgehalten habe? Je hipperer der Laden, desto größer die Deko, desto mehr Eis im Glas und desto hohler das Publikum. So endete meine Cocktailphase nach genau 2 Wochen. Geblieben sind ein wässriger Nachgeschmack und die Erinnerung an eine Dame im getigerten Kleid. Ich dachte damals, sowas gäb es nur im Fernsehen. Tigerlily sprach mich an, erklärte mir, ich sähe aus wie ein Jurist aus einer besseren Familie und schätzte mein Alter auf 29. Wow. Ich war beeindruckt: Dreimal geraten und dreimal voll daneben! Das schafft nicht jeder. Ich hab ihr das so gesagt und viel Glück beim nächsten Kerl gewünscht.
Zur Herkunft der Wörter: Warum nennt der Engländer seinen Hahn Hahn, der Deutsche aber nicht? Tatsächlich heißt der Hahn am Bierfass auf Englisch Cock. Das bietet sich doch geradezu an! Auch wenn es Fragen bezüglich der Anatomie des Engländers aufwirft. Vielleicht kommt´s auch von dem auf dem Mist: Der plustert sich ja gerne auf, dann schwillt ihm der Kamm und allerlei Zeug hängt unten dran.

Wie ist denn dein Mitschüler damals davon gekommen? Ich würde es immer und überall vermeiden, solche Bezeichnungen über meine Körperteile oder mich als Ganzes öffentlich zu verkünden (zum Beispiel in der Dampfsauna), aber ganz besonders in der Schule! Da hätte er sich nicht beschweren dürfen, wenn er für die nächsten Jahre als Piephahn durch die Welt gegangen wäre. Wir hatten auch so einen, der, ich weiß nicht mehr warum, erzählte, dass irgendein Cousin ihn als „Bobber“ bezeichnete. Der Cousin war erst 2 Jahre alt, Bobber aber schon 14 und hätte es wissen müssen. Obwohl, eigentlich war es sogar eine Verbesserung für ihn, denn vorher hieß er „Kröte“. Später pendelte es sich auf Digger ein, was einerseits nicht ganz falsch und andererseits nicht schlimm war, denn jede Clique hatte einen, der Digger hieß, naja, und heutzutage sprechen sich die jungen Menschen ja nur noch so an. Jeder ist Digger und Alter – auch die Mädels!
Immerhin war er damals der Erste, der arbeitete, ein Motorrad und soviel Geld über hatte, dass er sinnlos im Café sitzen und Cappuccino trinken konnte (Das Café hieß auch „Cappuccino“. Cappuccino war cool damals). Er war auch der Erste, und meines Wissens einzige, der jemals in einen Vorhang gewickelt, verschnürt, zwei Treppen runter geschleift und im Keller liegengelassen wurde. Wir waren schon ein einfallsreiches Völkchen. Harmlos im Vergleich zu dem, was heutzutage an Schulen so abgeht. Wenn auch nicht schön für Bobber Kröte Digger. (Er liegt heute nicht mehr da unten...)
Es wird so enden: Eines Tages sitzt der Businesskasper auf seiner Kaffeemühle mit Alsterblick und fragt sich, wie er sein „karges“ Salär nun verwenden soll. Kunst und Kultur? Kennt er nicht, hat er nicht. Wahrscheinlich hört er jetzt schon Jan Delay. Skifahren? Ist er zu alt für. Segeln? Wird ihm schlecht von. Nach SYLT fahren? Gibt es nicht mehr. Weiber? Geht nicht mehr. Schnaps? Die Leber ist schon in Rente, seit er 50 ist. Bleibt nur noch der Golfplatz. Da kann er dann in karierten Hosen wie sein eigener Grabstein herumstehen und von früher erzählen. Oder ESSEN.
Hast du das gelesen? Dänemark wäre mal fast Deutsch geworden! Beziehungsweise: Dem Deutschen Bund beigetreten, was nicht ganz dasselbe ist. Erstaunlicherweise fanden gerade die Deutschen diese Vorstellung ganz schrecklich! Ihr kuscheliges Ferienland Deutsch!? Das wäre dann ja wie... Schleswig-Holstein! Geht ja überhaupt gar nicht! Die Dänen fanden das damals zumindest nicht so schlimm: Dann wären die Autos bei ihnen billiger gewesen, und sie hätten endlich richtige Politiker gehabt. Ich glaube, das hätte nichts geändert: Irgendwann, wenn keiner hinguckt, wären sie wieder abgesprungen. Seit 1864 ist ja das eine oder andere passiert...

Stupid People Shouldn't Breed!
Robert
***
Ja, lieber Robert,
Quadrate… Ein buchstäblich weites Feld. Sehr wichtig für die Kunstgeschichte, sie dürfen daher nicht unterschätzt oder gar belächelt werden. Das Quadrat ist sozusagen ein (einer von vielen) Schlüssel zur Abstraktion in der Malerei. Und auch heute noch ein oft gemaltes Motiv.

„Kästchenmalerei“ nannte das mein Kunstprofessor. Kasimir Malewitsch, der „Gottvater des schwarzen Quadrates“, sagte dazu 1927: „Die Welt als Empfindung der Idee, unabhängig vom Bild – das ist der wesentliche Inhalt der Kunst. Das Quadrat ist nicht das Bild. So, wie der Schalter und der Stecker auch nicht der Strom sind.“ Soll heißen: Die Kunst befreit sich vom „Ballast der Gegenständlichkeit“ und wird „Reine Empfindung“, etwas, für das Malewitsch die Bezeichnung Suprematismus erfand: die gegenstandslose Welt oder das befreite Nichts. Das Quadrat hat also einen überaus wichtigen Stellenwert in der Geschichte der Malerei, denn, um sich nicht ständig zu wiederholen und wirklich kreativ zu sein, muss Kunst sich auch weiter entwickeln. Statt also immerzu die Wirklichkeit abzubilden, was im Zeitalter der Fotografie und des Films eh langweilig wurde, löste sich die bildende Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts von der gegenständlichen Darstellung und befasste sich mit dem Kern der Malerei: der Farbe und der Form.
Denn es sind die Farben und die Formen, die ein Mensch zuerst erblickt – erst danach wird ja einer Form in einer bestimmten Farbe ein Begriff zugeordnet. In diesem Zusammenhang muss auch ein anderer König der Quadrate genannt werden: Johannes Itten (1888 – 1967). Itten wurde durch seine Lehrtätigkeit und Arbeit mit Studenten am Bauhaus zum Begründer der Farbtypenlehre (Hauptwerk: „Kunst der Farbe“), die sich an Goethes Farbenlehre und der seines Lehrers Adolf Hölzel anlehnt und beide erweitert bzw. vervollständigt.
Der olle Goethe hat nicht nur eine Menge Zeugs geschrieben, sondern auch ein großes Interesse an Farben gehabt und war in der Lage, diese unabhängig von der Form oder dem Inhalt in der freien Natur zu genießen, wie er es in einem Reisebericht beschreibt: „Auf einer Harzreise im Winter (1777) stieg ich gegen Abend vom Brocken herunter, die weiten Flächen auf- und abwärts waren beschneit, die Heide von Schnee bedeckt, alle zerstreut stehenden Bäume und vorragenden Klippen, auch alle Baum- und Felsenmassen völlig bereift, die Sonne senkte sich eben gegen die Oderteiche hinunter. Waren den Tag über, bei dem gelblichen Ton des Schnees, schon leise violette Schatten bemerklich gewesen, so musste man sie nun für Hochblau ansprechen, als ein gesteigertes Gelb von den beleuchteten Teilen widerschien. Als aber die Sonne sich endlich ihrem Niedergang näherte und ihr durch die stärkeren Dünste höchst gemäßigter Strahl die ganze, mich umgebende Welt mit der schönsten Purpurfarbe überzog, da verwandelte sich die Schattenfarbe in ein Grün, das nach seiner Klarheit einem Meergrün, nach seiner Schönheit einem Smaragdgrün verglichen werden konnte. Die Erscheinung ward immer lebhafter, man glaubte sich in einer Feenwelt zu befinden, denn alles hatte sich in die zwei lebhaften und so schön übereinstimmenden Farben gekleidet, bis endlich mit dem Sonnenuntergang die Prachterscheinung sich in eine graue Dämmerung und nach und nach in eine mond- und sternhelle Nacht verlor.“
Goethes Hauptwerk zur Farbenlehre ist der „Entwurf einer Farbenlehre“ von 1810, in welchem er sich recht polemisch gegen Newtons Farbenlehre wendet. Itten interessierten die Farben nicht nur theoretisch, denn er war selbst Maler und sowohl an ihrer Wirkung auf den Rezipienten als auch an ihrem Zusammenwirken mit der Form interessiert. Er ordnete den Farben Formen zu; das Quadrat ist beispielsweise rot, ein Kreis blau, ein Dreieck gelb. Das hat auch alles seinen Sinn, aber die Erklärung erscheint mir an dieser Stelle zu lang und zu öde. Jedenfalls wird seine Farbtheorie noch heute an einigen Kunsthochschulen gelehrt.

So war das Quadrat nicht mehr schwarz, sondern rot.
Mein Kunstprofessor meinte nach seinen Vorlesungen darüber, man solle den „ganzen Quatsch“ gefälligst gleich wieder vergessen, denn, das seien Gesetzmäßigkeiten, die in der Kunst gebrochen werden müssten, sonst sei das alles nur „Scheißdreck“ und tauge nichts.
Kunst muss schon etwas können oder bewirken; nach Goethe, im Gegensatz zu Newton, aber der kam ja auch aus einer ganz anderen Abteilung (deiner – und an dieser Stelle finden wir eine Überschneidung von Kunst und Wissenschaft) und verdarb sich die Augen bei seinen Versuchen zum Thema, aber darüber weißt du sicher mehr als ich, soll das Ziel der Rezeption die Bewusstseinserweiterung sein, und das wird auch erreicht, den Farbe erweitert naturgemäß die Wahrnehmung – das rote Quadrat bewirkt beim Betrachter etwas anderes als ein schwarzes. Manche Leute macht eine rote Farbfläche tatsächlich aggressiv! Ich werde dagegen wütend, wenn ich auf ein grünes Gemälde schaue. Wo Grün doch so beruhigend wirken soll… Aber da kommt es dann wieder auf die FORM an – ein Blatt im Wind wirkt einfach anders als eine künstlich geschaffene Form. In diesem Kontext bekommt monochrome Malerei eine emotionale Bedeutung. Und das sieht der Banause nicht!
Darum sagte mein Professor gerne: „Die abstrakte und monochrome Malerei hat gerade erst begonnen, nicht nur kunsthistorisch gesehen, sondern auch, weil die Menschen sie noch immer nicht verstehen.“
In der abstrakten Malerei, in der die übliche Perspektive aufgehoben wird, es aber eine Paraperspektive gibt, die Tiefe und Spannung erzeugt, ist jede Form und jede Farbe gleich wichtig, einzig der Raumaspekt zählt, die sogenannte 4. Dimension (Bewusstseinserweiterung!). Da jedes Teil, jede Farbe gleich wichtig ist, ist der Betrachter oft irritiert und versucht einen Sinn zu sehen, versucht, wie beim Expressionismus oder Impressionismus etwas Gegenständliches zu erkennen. Doch das ist Unsinn und funktioniert nicht, wenn man Abstraktionen verstehen will; es geht einzig um Komposition und Emotionen. Von der Farbe kommt man automatisch zur Form. Die Malerei des 20. Jahrhunderts machte neue Inhalte, aber auch Farbzusammenhänge möglich. Und das geht immer weiter. Während man um 1960 noch lehrte: „Grün und Blau trägt die Sau“, kümmern solche Sprüche heute überhaupt nicht; im Gegenteil: Es geht ja darum, immer wieder die Regeln zu brechen und Neues zu schaffen, wobei ich nicht weiß, ob eine richtige Revolution in der Kunst noch möglich ist, aber wer weiß?
Nach 1900, nach Macke und Marc zum Beispiel, verselbstständigte sich die Farbe, sie wurde ungegenständlich und zum eigenen Thema, soll heißen: Bildinhalt. Abgesehen von der Komposition natürlich. So musste sich der Betrachter nun mit dem Wert der Farbe auseinandersetzen, da sie ganz im Vordergrund steht – ist sie doch auch DAS Medium der Malerei! Dazu bedarf es von Seiten des Künstlers sowie auch des Betrachters einer großen Reife, was das Sehen angeht, viel Einfühlungsvermögen und Hingabe. Denn man muss sich der Farbe HINGEBEN, die Farbe „leben“, so lange in das Farbgeschehen eintauchen, bis die Form auftaucht, was sehr schnell gehen kann, aber nicht muss. Und Form ist nicht gleich Gegenstand! Das kann man nicht deutlich genug betonen. Wie im Leben kann nichts erzwungen werden, sonst würde das Ergebnis nicht stimmen, es würde schlicht peinlich. So peinlich wie ein schlechtes Gedicht (siehe unsere Runkelrübenlyriker im Netz) oder ein hingepfuschtes Bild von jemandem, der von Malerei keine Ahnung hat. Es muss immer auf Stimmigkeit geprüft werden. Eine Farbform, die nicht stimmt, wirkt banal und aufgesetzt.
Es war Cézanne, der sagte: „Man muss die Farbe leben, die Farbe WERDEN.“ („Das Grün SEIN“, wie gesagt, aber eben ohne sich mit Avocado-Mus einzuschmieren!) Sich also hinein fühlen. Fühlen, was sie, die Farbe, mit einem macht, siehe Itten. Die Komposition besteht dann stets aus einer Außen- und Innenform und durch Kontraste, von denen es eine wahre Fülle gibt; durch die Vielfältigkeit der Kontraste und die Mehrfarbigkeit wird noch mehr Spannung erzeugt. Während man bei der monochromen Malerei über eine Farbe meditiert, sich nur auf diese eine Farbe, von der es meist unzählige Varianten gibt, konzentriert, das „perfekte“ Rot oder Grün oder was auch immer erstrebt, wird bei der Mehrfarbenmalerei das Augenmerk auf die Kontraste der Farben gelegt. Die Kontraste sind nach Goethe und Itten Hell-Dunkel-Kontraste, Warm-Kalt-Kontraste, Farbansichtskontraste (jede Farbe zu jeder Farbe), reine Farbe zu getrübter Farbe, Quantitäts-Kontraste (Viel-Wenig-Kontraste), Komplementär-Kontraste, Simultan-Kontraste und Sukzessiv-Kontraste (Stichwort Nachbild und Gegenfarbe).
Hm. Jetzt bin ich ins Plaudern geraten über Malerei… In deiner Schilderung ging es ja – abgesehen vielleicht von den Quadraten – eher um Konzept-Art und Installationen. Das ist nicht unbedingt mein Metier, also eigentlich gar nicht, es sei denn, ich stelle mal Treibgut zu einem Objekt zusammen. Diese sogenannte avantgardistische Installationskunst hat so ihre Tücken. Man muss das mögen, einen Draht dazu haben. Die Idee mit dem Tropfen Wasser, der einmal einen Zapfen bilden wird, ist so verrückt wie genial. Man bedenke, Kunst soll nicht schön sein. Kunst soll das Bewusstsein erweitern und zum Nachdenken anregen. Ob man das mag oder nicht, entscheidet man selbst. Wie immer im Leben geht es auch hier darum, sein Hirn einzuschalten und ein eigenes Urteil zu bilden. Ob man was mag oder etwas schön findet, ist allerdings nicht das Kriterium zur Beurteilung guter oder wahrer Kunst; was gute Kunst ist, erschließt sich oftmals nur dem „eingeweihten“ und geschulten Betrachter. Auch in anderen Bereichen maßt man sich ja nicht an, sich sofort ein fundiertes Urteil bilden zu können, obwohl man sich nie mit der Materie befasst hat!!! Sehen ist nicht gleich Sehen! Eine Freundin von mir sagte einmal: „Wenn es um Kunst geht, denken immer alle, sie könnten sofort mitreden. Was dann dabei herauskommt, ist meistens großer Quatsch.“
Unwissenheit ist eine Gnade – für den Unwissenden. Für mich ist sie – in diesem Fall – unerträglich.
Alles Liebe! Deine Vida
***
Meine liebe Vida,

es heißt ja, das Internet weiß alles über einen. Besonders Google. Irgendwo sitzt einer, schreibt mit, was du so treibst und schmeißt dich dann mit Werbung zu.
Bei mir sieht das so aus:

- 20 Meter schwarzes Gummi, schwarz, Industriestandard.
- Flüssige Kohlenwasserstoffe, ab 100 Liter aufwärts.
- Ein Pfund Dioden.
- Den Zustand der Welt verbessern. Durch bloßes Nachdenken!
- Jesus spricht. Manchmal sogar aus mehreren Richtungen gleichzeitig.
- Wer nicht so hoch ansetzen will, kann auch erstmal Apostel werden, in nur 10 einfachen Lektionen.
- Videos von Katzenkindern.

Wenn es das ist, was das Internet über mich denkt, dann frag ich mich, ob das Internet irgendwas über mich weiß, was ich gar nicht wissen will.
Könnten die mir nicht stattdessen Werbung für coole Sachen schicken?

Hieß der Mann wirklich Malewitsch? Nomen est Omen? Wie der Zahnarzt Dr. Angst? Kreis, Quadrat und Dreieck, sogar in diesen Farben, wenn ich nicht irre, erinnern mich an die Grundschule und die vergeblichen Versuche, uns mit ihrer Hilfe Mengenlehre beizubringen: 8-Jährige schieben buntes Plastik auf der Tafel herum und fragen sich: „Was kann ich nun damit beim Kaufmann anfangen?“ Denn der ist stur. Der akzeptiert keine gelben Dreiecke, egal, wie viele blaue Kreise sie in der Schule wert sind. Wer denkt sich sowas aus? Das kapieren manche in der Oberstufe noch nicht. Ich glaube, es kam von der Kybernetik her. Unsere Hirne sollten frühestmöglich logisch verdrahtet werden. Abstraktes Denken. Zusammenhänge. Das große Ganze.
Also das, was heute in der Kinderkrippe anfängt. Zehntausenden von Müttern muss ich an dieser Stelle leider sagen: Pränatales Mozarthören bringt nichts. Die Studie war getürkt. Und bis zum 6. Monat kann das Kind nicht mal hören.
Wenn man das zu Ende denkt, ist es ein Wunder, dass ich die Grundrechenarten beherrsche.
Das alles wirkt doch recht subjektiv, um nicht zu sagen, willkürlich. Ich für mein Teil kann sagen, dass mich Schwarz nicht depressiv macht. Ich kann in einer roten oder blauen Wanne baden und bin dabei genauso nass. Bei Gelb werde ich nicht vorschriftsmäßig fröhlich, sondern denke an Krankheiten.
Und Grün sagt mir gar nichts. Außer auf der Wiese, wo es hingehört. Insofern...
Und ich bin nur einer. Vermutlich sieht es jeder ein kleines bisschen anders. Da fragt man sich, wie einer auf die Idee kommt, dass er irgendwie vorhersehbare Wirkungen erzielen kann. Oder denkt er: „Ich sehe das so, also muss es richtig sein!“? Und wer es nicht so sieht, hat bloß keine Ahnung? Womit wir wieder am Anfang wären...

Stichwort Kafka. In der 10. Klasse verkündete unser Deutschlehrer, er sei sich nicht sicher, ob wir dafür schon reif seien, aber er wolle es mal probieren (noch ein Experiment...). Das sollte umgekehrte Motivation darstellen. Aber es funktionierte nicht. Wir waren ganz sicher: Obwohl erst 16 Jahre alt, ahnten wir schon, dass Kafka nicht ganz dicht war und die nächste Zeit schlimm werden würde. Nun ist die 10. Klasse schon ein paar Takte her, und so dachte ich jüngst: „Gib dem Mann eine Chance, du kennst ja nicht alles von ihm, und wer weiß, wofür es gut ist.“
Dass es neben/zwischen einer Theatervorstellung zum Thema ein dreigängiges Menü gab, half auch bei der Entscheidung. Das ist aber auch nicht ohne: Wenn es ganz schrecklich ist, kann man nicht weg, denn 1. hat man Hunger, 2. ist das Essen viel zu gut, und 3. war es nicht billig. Da ist man dann leicht drei Stunden fest gesetzt und kann nur versuchen, auf Durchzug zu schalten. Anders als einst Kafka weiß man wenigstens, dass es irgendwann vorbei ist. (Sowas hatte ich früher mal bei einer anderen Bühnenshow mit Dinner: Da war ein angeblich superkomischer Theaterclown angesagt, der nach 5 Minuten begann, das Publikum mit einzubeziehen, was ja nun gar nicht geht. Man konnte beinahe hören, wie überall das Grinsen einfror... Zahl ich ein irres Geld, um mich von einem Bühnenprofi zum Kasper machen zu lassen? Das ist schließlich SEIN Job. Das war das erste und letzte Mal, dass ich einfach etwas in ein Gästebuch schreiben musste: „Ohne das Essen wär ich nach 15 Minuten gegangen. Der Herr Soundso sollte noch mal ein Semester auf dem Clown-College belegen, zum Thema ‚Wie man einen Witz zu Tode reitet‘.“ In Köln oder Mainz feiert er sicher Triumphe...)
Sowas war bei Kafka nicht zu befürchten. Also, die zweite Chance für den Herrn. Tja, ich hätte es besser wissen müssen: Ein Schriftsteller ändert sich nicht und auch nicht seine Geschichten. Die Atmosphäre war zwar deutlich angenehmer als damals im Deutschunterricht, und der Vorleser war auch besser, aber was hilft das? Boooah! In jedem zweiten Satz entschuldigt er sich für den ersten (es könnte ja auch alles ganz anders sein) und im dritten für seine eigene Existenz. Das wirkt am Anfang noch nachdenklich und reflektiert, aber irgendwann ist es nur noch nervtötend (Komm endlich zum Punkt!).
Es heißt ja, dass bestimmte Schriftsteller, wie beispielsweise Grass oder Proust, nur noch neu aufgelegt werden, weil Menschen die Bücher kaufen, um andere Menschen zu beeindrucken. Ich kenne das von Thomas Mann: Angestachelt von einem Fernseh-Mehrteiler kaufte ich mir Felix Krull - und war maßlos enttäuscht. Auf dem Weg zur Mülltonne machte ich aus Respekt vor dem Klassiker noch einen Schwenk zur Bücherhalle, aber die wollten es nicht haben. Es waren schon ein paar andere vor mir da gewesen. Mit Buddenbrooks und Zauberberg hab ich es dann gar nicht mehr versucht. Da passiert ja schon im Film nichts.
Mit Kafka könnte es sich ähnlich verhalten: Heute weiß ich, dass die Literaturwissenschaft bisher keine schlüssige Deutung seines Werkes bei der Hand hat und vor Jahrzehnten natürlich noch viel weniger. Ist das nun gut oder schlecht für die Literaturwissenschaft? Und die Deutschlehrer? Bis es soweit ist, können sie weiter 16-Jährige darüber diskutieren lassen, bis einer seinen Kopf auf den Tisch haut...(Ja, ich war das.)
Bücher sind nicht zeitlos, und die Botschaft manches Klassikers lässt sich in drei Sätzen zusammenfassen: Ja, Demokratie ist gut, Nein, der Jude hat den Brunnen nicht vergiftet, und ohne Hexe brennt es besser...
Also Kafka. Man fragt sich: Was hatte dieser Mann für ein Problem? Sein Leben war nicht spektakulär, aber auch nicht irgendwie absurd, oder gar kafkaesk. Gut, er arbeitete in der österreichisch-ungarischen Bürokratie, die unter den Bürokratien der Welt schon einen Ruf hatte, aber so schlecht kann es ihm da nicht gegangen sein, denn soweit ich weiß, wurde er sogar dreimal befördert (vom einfachen Langweiler zum 1. Hauptlangweiler vermutlich).
Glücklich war er jedenfalls nicht. Tatsächlich hatte er Angst vor glücklichen Menschen. Er befürchtete, sie würden ihn umbringen, mal eben so.
Auch seine Beziehungen zu Frauen waren nicht unproblematisch (wer hätte das erwartet?): Mehr oder weniger begannen sie alle mit langen Briefwechseln, führten zu Treffen, manchmal gar Verlobung, und schließlich zur Trennung nach zirka 6 Wochen. Da musste ich gleich an Chaträume und Facebook denken...
Und genau so funktioniert eine Geschichte von Kafka: Man liest und liest, und plötzlich ist sie zu Ende, und man sitzt da und fragt sich, was das Ganze nun sollte. Warum hab ich angefangen, warum hab ich weitergelesen, und was will mir das sagen? Naja, weil es Kafka ist, und man denkt, man müsste das lesen, um gebildet zu sein. Dann weil man hofft, dass noch was passieren könnte. Es passiert aber nichts. Hier könnte einer nun einwenden: „Das muss nicht alle 2 Minuten knallen! Manchmal sollte man über Bücher nachdenken!“
Und da hätte er recht. Ich habe darüber nachgedacht. Aber es hat nicht geholfen. Was kann man also lernen? An dieser Stelle kann ich nur sagen: Es gibt nicht bloß einen Ausweg! Man kann sogar frei sein! Man kann ins Meer springen und überleben. Man kann das Buch zumachen und weglegen (oder ins Meer werfen) und die Zeit mit irgendetwas Sinnvollerem verbringen. Das ist nicht schwer: Die Katze füttern, ein Bier trinken oder einen Brief schreiben...

Non scholae sed vitae discimus. Ich lach mich tot.
Es grüßt dich dein Robert
PS: Zu Kafka gab es übrigens ein Traditionsgericht!
TRADITIONSGERICHTE gibt es einfach überall. Sie  überziehen das Land flächendeckend und überfallen einen hinterrücks. Wir kennen alle mindestens eins, ob wir wollen oder nicht...  Da ist der oder das berüchtigte Labskaus, für den es ja 100 Zutaten und noch mal soviele Geschichten über Zutaten gibt, wie wir wissen. Die meisten davon stimmen sogar. In letzter Zeit macht sich im Revier des Labskauses wieder der STINT breit, ein unbefriedigender Kleinfisch, der im Grunde nur aus Kopf und Mittelgräte besteht und auch im Dutzend nicht satt macht. Snuten und Poten, Birnen, Bohnen und Speck, Schwarzsauer, Sülzen und Kutteln ziehen eine Spur des Schreckens durch Norden und Osten. Im Südwesten pflegt man einen Kult um gekochtes Wabbelfleisch. Innereien, Füße, Schnauzen, Glibber, Bauchfett und Blut... Insgesamt also das Zeug, das dableiben muss, wenn das ordentliche Fleisch durch die Tür ist.
Wer jetzt denkt: „Da fehlt doch die Weißwurst!“, hat recht. Sie passt hier nicht rein: Zum einen hebt sie sich von den anderen Gemeinheiten dadurch ab, dass sie nicht aus Abschnitt und Aufgewischtem gefertigt wird. Bei ihr sitzt man nicht davor und fragt sich, ob man nicht doch in Würde verhungern sollte... Zum anderen wird sie jeden Tag gegessen und braucht keinen Firlefanz, der sie vor der lange verdienten Vergessenheit bewahrt. Ich habe sie probiert und bin sicher, dass es sich bei der Weißwurst nur um eine religiöse Sache handeln kann. Denn sonst würde um ein Produkt, das nach Geschmack und Aussehen hauptsächlich aus gehackten Bierdeckeln besteht, nicht so ein Gewese gemacht.
Alle Traditionsgerichte haben ein paar Gemeinsamkeiten:
1. Die Esser setzen sich durchweg aus höheren Jahrgängen zusammen.
Warum? Weil sie diese Gerichte als KIND vorgesetzt bekamen.
Ich bin sogar sicher, dass sie sie oft vorgesetzt bekamen, denn das Zeug war billig, und wir hatten ja nix... Und wie jedes gesunde Kind haben sie sie gehasst!
Aber das war DAMALS! Und damals ist ein anderes Wort für FRÜHER. Und früher war bekanntlich alles BESSER, also muss das Essen auch besser gewesen sein, und es wäre doch schade, wenn all diese schönen Erinnerungen bliblablubb…
2. Sie bestehen nicht nur aus Zutaten, die man aus gutem Grund unkenntlich gemacht hat, nein, sie sind auch fast alle FETTIG. Wenn sie nicht fettig sind, sind sie SAUER. Oder sie stinken, wahrscheinlich, um uns an die Geburt ihres Rezeptes aus der Not zu gemahnen, irgendwo zwischen Schweinestall und Misthaufen...
Im Norddeutschen nun breitete sich der GRÜNKOHL aus, ein dem Vernehmen nach gesundes, optisch und geschmacklich aber witzloses Gemüse, das nach der Zubereitung an Gras erinnert, nachdem es durch die Kuh gewandert ist. Zum Glück hat Grünkohl aber keinen nennenswerten Geruch... Heute und zu allen Tagen hat man alles Mögliche in den Kohl hineingeworfen, um ihn aufzunorden, aber das ist bisher niemandem gelungen. So wandern denn Schwarten, Bauchfleisch, hilfloses Kassler und unbedingt die PINKELWURST in den Topf, wo alles zusammen zu Tode gekocht wird. PINKEL ist eine fiese Grützwurst, bei der nicht ganz klar ist, ob sich der Namensgeber einen schrecklich originellen Witz über die Form erlaubte oder doch mehr auf den Geschmack abzielte.
(Ich hab welche gegessen und tendiere zur zweiten Möglichkeit.)
Die Liebhaber dieser Spezialität, die durch die Bank aussehen, als hätten sie IQ gegen Volumen getauscht, versammeln sich also, wenn die Zeit herangekommen ist, zu einem Grünkohlsabbat, wo sie mit den Schwarten um die Wette glänzen.
Die müssen dann auch gleich als Unterlage und Begründung für die 6 Kurzen herhalten... Zumindest für die 6 hinterher.
Als Beilage wählt der Profi FETTIGE Bratkartoffeln, auf die schlimmst-mögliche Weise zubereitet (SPECK!). Dann wird reingehauen, bis keiner mehr steht, und wer am meisten Plempe verschlingen kann, wird GRÜNKOHLKÖNIG. Der muss dann im nächsten Jahr versuchen, seinen Titel zu verteidigen. Andere Aufgaben hat er nicht. Aber das macht nichts, denn viel wichtiger ist die KÖNIGIN. Jedes Traditionsgericht, das ernst genommen werden will, braucht mindestens eine. Und so gibt es auch eine Grünkohlkönigin. (Ob es eine Wabbelfleischkönigin gibt, weiß ich nicht.)
Sie ist IMMER jung, schlank, hübsch, studiert BWL und würde den Grünkohlkönig auf der Straße nicht mal ansehen, wenn er vor ihren Augen an Grünkohlvergiftung einginge. Diese Dame wird von offizieller Seite zur Verfügung gestellt und verdankt ihr Amt der Tatsache, dass ihr Vater entweder Grünkohl in großem Maßstab anbaut oder verarbeitet oder Vorsitzender des Verbandes der Grünkohlerzeuger oder -verarbeiter ist. Ihre Figur verdankt sie der Tatsache, dass sie keine Traditionsgerichte isst, wenn die Kamera aus ist.
Ist das nun typisch Deutsch? Mitnichten. In Frankreich beispielsweise schaut uns aus der Tiefe das CASSOULET an, eine Art Eintopf, dessen Zutaten an einen Küchenzettel des großen Weltreisenden Dieter Nuhr erinnern: „Kuhschnauzen, Gedärm, Muff und Gestrüpp“. Im fertigen Zustand sieht es aus, als wolle man damit die Katzen vom Hof jagen.Und doch wird diese Spezialität mit großem Aufwand vorbereitet, aufbereitet und zubereitet, um dann inszeniert, zelebriert, fotografiert und konsumiert zu werden. Es gibt eine Vereinigung der Cassoulet-Köche und eine der Cassoulet-Esser, inklusive Dienst- und Meistergraden. Erstaunlicherweise interessiert all dies nur Menschen, die entweder Cassoulet zubereiten oder Cassoulet essen, und sonst niemanden. Mit Recht, würde ich sagen...
***
Lieber Robert,
ja, es ist erstaunlich, dass früher alles besser war – wo man doch denken könnte; früher war einfach nur früher. Das hatten wir ja schon des Öfteren. Und noch merkwürdiger wird das Ganze, wenn man in diesem Zusammenhang an Aussagen denkt, wie: „Wir hatten früher ja GAR NICHTS!“ Früher hatten wir also gar nichts. Und doch war alles viel besser. Aha. Soso.
Wir müssen uns daher wohl auf die Suche machen nach einem glaubwürdigen Motiv. Ich denke, und das haben auch schon andere vor mir gedacht, also ist es im Grunde ein alter Hut, Nostalgie entsteht zunächst dadurch, dass die Vergangenheit, da bereits erlebt, bekannt ist und in der gnadenvollen Vernebelung der Erinnerung auch noch verzerrt, sprich geschönt wird. Dinge, die früher de facto in der Situation absolut peinlich waren (betrunken im Rinnstein liegen, klatschnass vor einer Kneipe stehen, weil einem ein Bier über den Kopf gegossen wurde, und dergleichen mehr – warum fallen mir jetzt nur Geschichten ein, in denen Alkohol eine Rolle spielt?), erhalten viele Jahre später das Prädikat „zum Schreien komisch“. Vermutlich, weil man froh ist, solch einer Situation heutzutage nicht mehr ausgesetzt sein zu müssen (obwohl…).
Früher hatte man auch noch ungestraft und ohne schlechtes Gewissen einen hohen Cholesterinspiegel und einen gepflegten Bauch, wenn man ins mittlere Alter kam. Stattlichkeit war nicht nur Folge eines guten Lebens, sondern schon fast ein Status. Da fällt mir wieder die Monroe mit ihrer Kleidergröße 42 ein. Heutzutage gilt eine Frau, die eine Größe 42 hat, leider nicht mehr als weiblich, sexy, schön oder elegant, sondern schlicht als zu fett. (Siehe Wabbelfleischkönigin!) Bösartig ausgedrückt. Wenn kein Essen da ist, scheint es als schick zu gelten, wenn Busen und Bauch „stattlich“ sind. Oder der Po. Falls es aber Nahrung im Überfluss gibt, gilt es wohl als unschicklich und undiszipliniert, diese auch reichlich zu konsumieren (mit den entsprechenden Konsequenzen). Schönheit liegt ja nicht nur im Auge des Betrachters; was für schön befunden wird, liegt auch an den jeweiligen gesellschaftlichen Begebenheiten und den entsprechenden Zeitrahmen.
Man denke an das unbeschwerte Saufen und Rauchen in früheren Zeiten. In Paris zur Zeit des Ersten Weltkrieges feierten die Künstler jeden Tag die wildesten Feste, und gesoffen wurde bis zum Umfallen. Weil jeder Tag der Letzte sein konnte. Also leben! Was das Zeug hält – und die Geldbörse hergibt. „Es geht mit Tabak und mit Rum“, wusste Wilhelm Busch, „erst bist du froh, dann fällst du um.“ Aber: Hinter all den rauschenden Partys versteckten sich Armut, Krankheit, Verbitterung, Angst und Desillusion. Aus irgendeinem Grund trinkt man schließlich auch; nicht nur aus Geselligkeit.
Was war früher also besser? Die Schrecken der Vergangenheit sind bekannt und belasten nicht das Hirn eines sorgenvollen Menschen wie die Ärgernisse der Gegenwart und die Sorgen um die Zukunft es tun. Man blickt zurück auf gelebtes Leben und stellt fest, dass einiges – jetzt, wo man nicht mehr mitten drin ist, doch ganz nett und annehmbar war. Und manches war ja auch wirklich schön. Was wär das sonst für ein bitteres Leben? Zusammen mit alten Freunden kann man dann endlos in alten Geschichten schwelgen und diese bei Bedarf auch mal ausschmücken. „Was haben wir gelacht“, heißt es dann. Aber möchte man das alles nochmal?
Darum erzählen alte Männer vielleicht auch vom Krieg – oder von der Bundeswehr (was natürlich überhaupt nicht miteinander zu vergleichen ist, allerhöchstens dadurch, dass Kerle mit Waffen durch die Gegend laufen). Es WAR schrecklich; aber zugleich auch ein nicht zu leugnender Höhepunkt. Unvergesslich im Schlechten.
Kinder hören ja vorm Einschlafen gerne jeden Abend die gleiche Gute-Nacht-Geschichte. Und es darf im Ablauf der Ereignisse auch nie etwas verändert werden. Denn eine stets gleiche Geschichte beruhigt die Nerven – und macht müde. Aufregung ist im Grunde das Letzte, was man haben will, ich weiß nicht, ob es in der Natur des Menschen begründet ist, dass man freiwillig an einem Gummiseil befestigt die Brücke runterspringt. Ging es nicht immer darum, mit möglichst wenig Aufwand gut zu leben? Und sucht man in dieser Zeit vielleicht nur nach dem gefährlichen Kick, weil man nicht wirklich mehr um irgendetwas kämpfen muss? … Aber ich schweife ab.
Die eigene Geschichte in ihrer Beständigkeit beruhigt und regt nicht auf wie Leben, das gerade stattfindet. Man hatte nichts, aber es machte einem nichts aus. Immer wieder ist in diesem Zusammenhang vom „Zusammenhalt“ der Menschen die Rede. Gerade Notzeiten schweißen ja Menschen zusammen, doch will man die Notzeiten dafür ertragen? Und war das wirklich so? War es nicht eher so, dass jedes emotionale Problem totgeschwiegen und unter den Tisch gekehrt und komplizierten (heute als depressiv diagnostizierten) Menschen übel nachgetratscht wurde?
Neulich las ich wieder einmal „Herbstmilch – Lebenserinnerungen einer Bäuerin“ von Anna Wimschneider (1919 – 1993) aus dem Jahr 1985. Danach konnte ich nur urteilen: Nein, früher war alles ganz schrecklich! Diese Frau hat ein furchtbares, arbeitsreiches Leben gehabt und war froh, als sie im Alter endlich morgens mal ausschlafen konnte.
Überhaupt. Was Frauen damals auszustehen hatten in einem angeblich zivilisierten Land! Aber irgendwie schienen alle „härter“ und „zäher“ als heute. Das liegt nicht nur daran, dass wir in der Tat auf sehr hohem Niveau jammern, sondern auch daran, dass man früher nicht über Gefühle sprach. Die vertraute man einem Tagebuch an oder schrieb Bücher wie „Sturmhöhe“, das alle begeistert bis in unsere Tage hinein verschlingen, obwohl es lediglich das Zeugnis schwerer Borderline-Persönlichkeitsstörungen ist. Früher ging man für seinen Geliebten eben in den Tod und hieß diesen mit offenen Armen willkommen. Man machte kein Gewese darum, dass man nicht unsterblich war. Und später entdeckte dann irgendein Biograph die jahrzehntelang versteckt gehaltenen Tagebücher voller Klagen und heimlicher Qualen.
Alles nicht so einfach. Und natürlich auch immer eine Frage des Alters. Jeanne Hébuterne nahm sich mit 22 einen Tag nach dem Tod ihres Gefährten Amedeo Modigliano das Leben, indem sie sich rücklings aus dem Fenster stürzte. 5. Stock. Das reichte. Was ich erstaunlich finde, aber das nur nebenbei. Sie warf ihr junges Leben zum Fenster hinaus, und mit dazu ihr ungeborenes Kind, denn sie war im 9. Monat schwanger von Modi, wie seine Freunde ihn nannten. Die Schande des Selbstmordes wurde von Freunden und Verwandten so gut wie totgeschwiegen, kein Biograph, nicht einmal Jeannes und Modis erste Tochter, bekam eine zufriedenstellende Auskunft über Leben und Tod des tragischen Elternpaares.
Der damalige Freundeskreis hielt Jeanne gemeinhin für ein Opferlamm, sie opferte ihm ihr eigenes künstlerisches Talent (sie zeichnete und malte wie er, weshalb der Kunstfälscher Elmyr de Hory einmal aus Versehen eines ihrer Gemälde kopierte) sowie ihr Leben, und da könnte man eventuell, wenn man an „Sturmhöhe“ denkt, auch wieder meinen, hach, wie tragisch, aber doch so wild romantisch, sie hat ihn derart geliebt, dass sie ihm in den Tod folgte. Aber in Wahrheit, meine ICH, war das schlicht unverantwortlich ihren zwei Kindern gegenüber; eines nahm sie mit ins Grab und das andere machte sie zur Waise! Welche Person macht so etwas? Eine kranke. Ja. Aber auch eine besonders junge. Denn welche Lebenserfahrung hatte sie denn? Modi war ihr erster Mann. Und sie dachte, sie würde den Schmerz nicht aushalten. Hätte sie die Zähne zusammen gebissen und sich zusammen genommen für ihre Kinder, ihre Mutter, ihre beste Freundin, wäre ihr vermutlich nach spätestens 5 Jahren klar geworden, dass ihr „Dedo“ ein drogen- und alkoholabhängiger Wüstling war und ein Mann wie andere auch. Okay, er war ein guter Maler. Das ist nicht zu unterschätzen. Deshalb muss er aber ja kein perfekter Mensch sein.
Ergo hätte sie vielleicht zehn Jahre später beim Wein ihrer guten Freundin Germaine gegenüber Witze reißen können über den ungehobelten Klotz, der Modi war. Friede seiner Seele, versteht sich. Oder meinetwegen auch, wie schön und charmant und liebevoll und großartig und genial er war. („Früher gab es noch echte Männer. Sowas findet man ja heute aufm Montmartre gar nicht mehr.“)
Jugend. Das ist mein Stichwort! Sie ist der andere Grund für die Verklärung. Aufgrund der Tatsache, dass man früher jünger war, erscheint in der Rückschau vieles besser. Nicht unbedingt, weil man wieder so jung und doof sein möchte wie früher, sondern weil damals alles, was man erlebte, irgendwie aufregend und neu war und somit auch mehr Eindruck machte als das, was danach kam. Später wiederholte sich alles und nutzte sich ab. Klar, gibt es in jedem Alter Highlights, an die man sich gerne erinnert, aber ich wage mal zu behaupten, dass nichts wirklich mehr so neu ist wie in diesem besonderen Alter auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sowas prägt sich ein. Das Leben ging erst los! Und man hatte noch Kraft, um Abenteuer zu erleben.
Ich selbst hatte in meiner Kindheit wirklich viel weniger als heute, keine 300 Fernsehprogramme, kein mobiles Telefon, keinen Internetanschluss, keine Musik auf CDs und vieles anderes mehr, aber das störte mich nicht. Ich fühlte mich wohl mit dem, was da war, weil man das, was man nicht kennt, ja nicht vermisst. Bücher lesen war auch schön. Und ist es heute noch! Trotzdem, und auch wenn ich früher noch gesünder und schlanker und alles neu und aufregend war, möchte ich nicht behaupten, dass darum alles besser war. Im Gegenteil. An manche Situationen und Gefühlszustände erinnere ich mich nur mit Grausen und möchte nie mehr in eine Zeit zurück, in der ich sowas erleben muss.
Das gelebte Leben macht manche Einsichten erst erfahrbar; nämlich dass es Sinn macht, im JETZT zu leben, jeden Augenblick zu genießen, auch wenn es schwer fällt. Sich auf das Schöne zu konzentrieren, lenkt auch wunderbar davon ab, dass man NOCH älter wird und eines Tages nicht mehr da sein wird. Ein, zwei Gläser Wein übrigens auch…
Die kleinen Freuden sind sowieso die Besten, die kleinen Momente des Glücks, die kostbar sind und dafür sorgen, dass wir den Spaß an der ganzen Sache, die man Leben nennt, nicht verliert. Wenn mein Mann mir Rosen schenkt zum Beispiel oder mit mir den nächsten Urlaub plant. Oder eben das Glas Roten am Abend. Kann es sein, dass ich nur an Alkohol denke? Das mag daran liegen, dass ich keinen mehr trinke. Die Katastrophe ist eingetreten: Ich reagiere allergisch auf Rotwein. Jaja. Ein Glas Wein am Abend büße ich jetzt am nächsten Tag mit einem waschechten Migräneanfall aufgrund von Histaminen und Gerbstoffen. Nichts mehr mit Kater nach einer ganzen Flasche wie einst, wie es sich gehört, nein, ein Gläschen reicht schon. Und da ich nichts anderes trinken mag als Wein, trinke ich gar keinen Alkohol mehr. Das Leben ist unfair.
Früher war doch alles besser!
Nüchterne Grüße
sendet Dir Vida
***
Meine liebe Vida,
früher war alles besser, WEIL man nichts brauchte. Man war ja anspruchslos und auf das WESENTLICHE konzentriert. Der Bruch in der Logik ist natürlich, dass man das erst viel später merkt, vorzugsweise dann, wenn andere sich Dinge leisten, die man damals nicht hatte und sich heute nicht leisten kann. Man brauchte nicht viel und war nicht so verweichlicht. Gut, rein theoretisch braucht der Mensch wirklich nicht viel, Männer zum Beispiel nur eine warme Mahlzeit täglich, gebügelte Hemden und nicht zu oft Beischlaf. Manche verzichten sogar auf solche elementaren Dinge, aber das Ergebnis sieht dann auch entsprechend aus. Und die Härte? Tja, man mutete sich lediglich in kürzerer Zeit mehr zu - und lebte mit 50 ab.
Ist dir in dem Zusammenhang mal aufgefallen, dass der „Zusammenhalt“ immer erst ganz zum Schluss kommt? Als so eine Art Entschuldigung, um es nach der ganzen Scheiße vorher noch rauszureißen: „Nur ein Löffel für acht Kinder, und im Sommer sind wir nackt gelaufen, weil es Hosen nur für die Ältesten gab! Jeden Tag hat uns der Vater eine Stunde verprügelt, und im Juni, wenn der Schnee endlich weg war, sind wir ins Dorf, um altes Brot fürs nächste Jahr zu kaufen. Dabei ist immer mal ein Kind verloren gegangen, aber das fiel nicht weiter auf, weil Mutter eh immer schwanger war. ABER wir haben zusammengehalten, wenn es drauf ankam!“ (Text in jedem beliebigen Dialekt abspielbar.) Wenn man will, kann man sich jahrzehntelanges Aufeinanderhocken mit immer denselben Leuten als Zusammenhalt schönreden.
Selbstverständlich ist das Leben einfacher geworden, gepamperter und mit weniger Extremen versehen. Aber wollten das nicht immer alle? Und nun ist das auch wieder nicht richtig... Ich frage mich aber, wo denn der Kick in den üblichen Kick-Beschäftigungen ist? Bungie? Pfft. Das Seil wird schon halten. Kletterparcoure? Dito. Was beweist ein Marathonläufer? Außer, dass er zu viel Zeit für endlose, öde Trainingsrunden hat, die er sonst mit seiner Familie verbringen könnte? Ich bin gelaufen und weiß also, wovon ich rede. Alles über einer Stunde ist nicht mehr wirklich gesund und zudem langweilig. Früher gab es den Krieg als Grenzerfahrung, heute nur noch den Herzinfarkt.
Apropos Grenzerfahrung: Wenn die Dame sich im Liebeswahn aus dem Fenster stürzt, ist das selbstverständlich romantisch! Es ist wild, schnell, unüberlegt, aus dem Augenblick geboren und extrem bis zum Exzess. Und schwanger. Mehr Romantik geht eigentlich nicht. Es fängt schon damit an, dass Frauen sich in solche Ärsche vergucken und bis zum Schluss nicht merken, dass sie nur Blitzableiter, Putzlappen und Spielwiese für die Herren Genial sind. Selbstverständlich ist es unverantwortlich und bei näherem Hinsehen auch Blödsinn und nicht gesund, aber „Verantwortung“ und „gesund“ sind keine romantischen Wörter. Ich las gerade (der Gedanke ist also nicht von mir, aber er passt gut), dass die Geschichten, die man hört und kennt, von Leuten handeln, die es durchgezogen haben. Sie hätten immer wieder umkehren können, aber sie taten es nicht. Hätte sie sich also mit ihren Freundinnen hingesetzt, ein paar Flaschen Roten geleert und zwei Jahre später einen von der Sparkasse geheiratet, wüsste wahrscheinlich keiner mehr ihren Namen. Es sei denn, sie hätte vorher noch seine Bilder auf der Straße verschenkt oder in die Seine geschmissen (solche Geschichten spielen ja immer in Paris). Das wäre dann wieder romantisch.
Gestern brach übrigens, einfach so von jetzt auf gleich, mein Stuhl unter mir zusammen. Sowas ist unschön, auch weil man sich nur schlecht darauf vorbereiten kann. Man sitzt da keine fünfzehn Jahre, denkt an nichts Böses, und plötzlich sieht man die Welt schlagartig aus einer ganz anderen Perspektive. Und wo kriegt man mitten in der Nacht einen neuen Stuhl her? Nicht von der Tanke. Gibt es über so was nicht Sendungen im Fernsehen? Männer, die ganz lange an irgendwas bauen oder ganz schnell irgendwas kaputtmachen? Das wär doch was für die Unfall-Witze-Sendungen: Mit dem Stuhl zusammengebrochen. Aus sechs Blickwinkeln und in Zeitlupe. Langweilig? Uninteressant? Naja, neulich sagte einer, er verstehe nicht, was an Tattoo-Sendungen dran sei. Einer kommt rein und will ein Tattoo. Mehr passiere doch nicht. Das ist nicht falsch, aber wenn man es weiter denkt, sehen alle Sendungen so aus, zum Beispiel: Monster kommt, macht die Stadt kaputt, Monster geht. Abspann. Jemand kommt, macht irgendwas und geht wieder. Im Grunde könnte man sogar das ganze Leben so zusammenfassen!
So sind die Geschichten dieser Welt, ob im Roman oder im Fernsehen immer ganz nah dran am wahren Leben. An der Kuchentheke beim Karsti zum Beispiel, nach 18 Uhr, haben wir die Kittelfrau, den Bildleser und den Oppa mit dem Kreuzworträtsel, jeden Tag, eine Doku-Soap. Gespenstisch. Da ist auch noch diese Lokalität an der Ecke, wo ich immer vorbeikomme: Ab und zu stehen da Mädels und warten aufs Taxi oder auf Regen. Alle irgendwie gleich groß, alle etwas zu dick geschminkt und alle etwas zu toplastig für ihre ein Meter sechzig. Dazu noch die Kellerlage, die Kamera vor der Tür und der rot tapezierte Flur? Nanu? Was machen die da bloß? Aber ich bin doch ein bisschen vorsichtig geworden mit Annahmen, denn es gab eine Zeit, wo ich bei jeder bunten Leuchte hinter einem Vorhang dachte, das ist ein Puff, und die drehen da Pornos.
Nun guck ich neulich über die Karte der näheren Umgebung bei google maps und was seh ich: Einen Link! Und siehe: Die machen da tatsächlich „oder sowas“. Auf gut Deutsch: ein Puff. „Willenlos im Rudel“ war ein schöner Satz auf der Website... Ich versuche immer noch, mir das nicht vorzustellen. Aber wer immer das geschrieben hat, kann nicht ganz humorlos sein. So, einen Puff erkenn ich also, wenn ich einen sehe. Aber eigentlich wollte ich auf was anderes hinaus: Als ich neulich nichtsahnend um die besagte Ecke bog, lief ich auf einen Herren auf und dachte sofort: Dieser Mann ist schwul. Woran lag das? An seinem glänzenden braunen Anzug, der unten gerade soweit zu kurz war, um die Spitzgurken aus Schickleder nicht zu verdecken? Den X-Beinen? Dem um 90 Grad abgewinkelten Arm (Kaffeekanne)? An dem mit zwei Fingern gehaltenen Handy? Oder am Ende daran, dass er wirklich und wahrhaftig „Hach!“ sagte? Bisher hatte ich Männer nur im Fernsehen „Hach!“ sagen hören.
Wahres Leben findet auch auf dem Stadtteilfest statt. Sieht überall gleich aus: Reihenweise Nippesbude, Saufbude, Nippesbude. Oder umgekehrt. Die Freiwillige Feuerwehr. Eine mehr oder weniger gute Coverband und an der Bierinsel (gesponsert by Irgendeine Große Marke) alle Hackfressen des Viertels. Hier trifft man Kollegen: „Hallo, na sowas, auch hier?“, „Woher und wohin, dies und das, machen und tun...“, „Fußball und Locations“, „Man sollte mal was organisieren“ und anderes mehr. Kaum ist einer zehn Meter weg: „Boah, ist der fett geworden! Und ein Schwaller ist er auch. Einer, der immer einen kennt, der einen kennt. Große Ansagen, aber dann kommt nix mehr!“
Die Welt ist schlecht…
Gruß, Robert
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Lieber Robert,
endlich, nach langer Zeit, komme ich dazu, dir zu antworten. Die Tage, Wochen, Monate, ja, fast möchte ich sagen: mein Leben rauschen an mir vorüber, immer gibt es etwas zu tun, nie wird man fertig, meistens IST man nur fertig und will seine Ruhe. Ich stelle mir vor, dass man früher wenigstens mehr Zeit und Muße hatte, wenn man bedenkt, dass ein Brief tagelang mit einem berittenen Postboten unterwegs war, bis er ankam. Da hatte man nicht am nächsten Tag fünfzig Antworten auf 50 Mails plus Werbung im Postfach! Ansonsten kann man davon ausgehen, dass früher alles schlimmer war, in fast jeder Beziehung. Da gibt es so viele Beispiele, wie wir ja wissen; allein die medizinischen Verhältnisse, Armut, Hunger und Krieg oder auch nur Bleiweiß als Schminke für die Damen, die sich dann wunderten, warum sie unter Ohnmachtsanfällen litten.
Und früher war auch das Wetter nicht besser. Neulich las ich, dass es vom 15. bis 17. Jahrhundert fast durchgehend geregnet hat, also lauter kalte, nasse Sommer gab, so dass die Ernte immer mickrig ausfiel und die Leute bitter hungern mussten. Und viele arme Menschen starben. Und wen machte man als Schuldigen ausfindig? Genau: die Hexen! Es gab immer irgendwo eine drollige Alte, die man verdächtigen konnte, einem mittels eines Wetterzaubers die Petersilie verhagelt zu haben. Das war, nachdem man die Juden nicht mehr verantwortlich machen konnte, weil man sie als Brunnenvergifter schon fast ausgerottet hatte. Den grausamen Fortgang der Geschichte kennen wir: die Hexenprozesse und die Scheiterhaufen, die besonders in Deutschland überall und oft brannten, denn so ist man in Deutschland: gründlich. Nicht so lapidar und träge wie in Italien zum Beispiel, wo sich jedes Dorf ein bis zwei „Stregas“ leisten konnte.
Sowieso, Frauen im Mittelalter, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, dem Vater, den Rüpeln auf der Straße, später dem vom Vater ausgewählten Gatten, der Mutter des Ehemannes, dem ewigen Kindersegen, der Arbeit, dem Hunger, der Not. Gute alte Zeit. Aber der Zusammenhalt in einem winzigen mit Stroh ausgelegten Raum mit acht Kindern und einem betrunkenen Ehemann war sicher großartig.
Wie dem auch sei: Der Mensch mag es einfach, zu meckern. Das war immer schon so, und wird auch so bleiben. Die Vergangenheit wird romantisch verklärt und alles Fortschrittliche erst einmal panisch abgelehnt. Erst Gutenbergs Buchdruck, dann das Internet. Und vieles andere mehr. Kaum hat man sich an etwas gewöhnt, wird das nächste kritisch beäugt: „Emails? Okay, aber soziale Netzwerke? Nein! Kindle zum Lesen? Nein, lieber das gute alte Buch auf dem Bauch!“ Dabei kann der Mensch gar nicht anders, als immer wieder Neues zu erfinden und zu entdecken, schließlich hat sich die Menschheit nicht ohne Grund einst aus Afrika, der Wiege der Menschheit, über die ganze Welt verteilt, hat nicht ohne Grund Kontinente entdeckt, neue Waffen und das Wasserkloset erfunden.
Das Problem ist also nicht die Gegenwart oder der Fortschritt, das Problem ist, dass der Mensch nie zufrieden ist und es einfach nicht gewohnt ist, auf die Sachen zu schauen, die gut sind in seinem Leben. Heutzutage nennt man das „Achtsamkeit“. Was schon wieder zu einem Unwort geworden ist, weil sämtliche psychologische Ratgeber (in wirklichen Büchern oder im Kindle) mit dem Wort im Titel werben, es gibt sogar schon die „Achtsamkeits-Diät“. Was das Wort aber meint, ist etwas Essenzielles, wenn es darum geht, glücklich in seinem Leben zu sein. Und das wollen ja immer alle! Um dann doch zu jammern und zu meckern. Achtsamkeit meint: mal im Augenblick zu bleiben und nicht immer mit den Gedanken bei den anderen sein, die schlanker, hübscher, reicher, mächtiger sind als man selbst. Zum Himmel schauen und nur denken: Ah, da ist die Sonne, der Mond, die Wolken, die Sterne oder was sonst noch, und den Anblick einfach zu genießen. Oder das Essen. Ohne sich dabei ablenken zu lassen. Jeden Bissen. Sich zu freuen, dass das Bett frisch bezogen ist und gut riecht. Froh zu sein, mit dem Liebsten im Bett zu liegen – oder darüber, ihn weit weg zu wissen, weil man ohne sein Schnarchen besser schlafen kann. Sich jeden Tag überlegen, wofür man dankbar ist, anstatt sich aufzuregen über Dinge, die man eh nicht ändern kann. Aber das ist schwer. Solch ein Denken erfordert Meisterschaft. Denn es ist natürlicherweise kaum jemandem gegeben.
Laut psychologischer Erhebungen muss ein Mensch fünf positive Dinge erleben, um eine schlimme Sache in seinem Gehirn zu überschreiben, weil die negativen Erlebnisse immer doppelt und dreifach registriert werden. Warum ist das so? Ist das unser Preis für den Fortschritt? Ist das wie bei einem Künstler, der immer an sich zweifeln, immer die Fehler sehen muss, um voran zu kommen? Sich Herausforderungen, wie dem Erlernen einer neuen künstlerischen Technik stellt, weil er das einfach will, aber immer wieder an seinen Vorstellungen von Perfektion scheitert? Weil der kreative Prozess zu Ende wäre, wenn man mit sich selbst zufrieden ist?
Vielleicht ist das so.
Vielleicht muss der Mensch meckern und jammern und sich sorgen.
Vielleicht wäre alles Leben zu Ende, wenn man endlich alle Probleme gelöst hätte.
In diesem Sinne löse ich jetzt meine Probleme, indem ich mit einem gutem Buch und einem Whisky-Soda statt Rotwein ins Bett gehe und mir nach reichlicher Lektüre und reichlichem Alkoholgenuss die Decke über den Kopf ziehe.
Ein bisschen Frieden, ein paar schöne Träume.

Was will man mehr?
Herzlichst, deine Vida


 TEXT & Fotos (c) by Kristina Botha und Birger Riedel



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